An diesem einen Punkt der Welt - Roman
ein Haus als Depot für Schrift mehr denn eine Wohnstatt. Lese-Marathons bis spät in die Nächte hinein, Hunger nach dem unmessbaren Zauber von Sprache, weltvergessenes Lesen ohne Ziel und Verwertbarkeitsstatistik, ein dadaistisches Spiel, um die Welt auf den Kopf zu stellen. Vielleicht auch, um sich zu wappnen gegen alles Diktatorisch-Tyrannische, weg von allen Autoritäten und alten Bindungen. Von der Mutter. Dem Vater. Den Professoren. Dem Müssen. Dem Erreichen-, Glauben- und Erfüllen-Müssen.
Das Brummen der 6-Uhr-Maschine ins Weite verschlief Tom meistens. Er hatte sie durch den 2-Uhr-Jet von London nach Abu Dhabi ersetzt, da war er gerade am Einschlafen. Der ferne Ton um die immer gleiche Zeit gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Er wusste dann, dass es da draußen auch eine Welt gab.
Wie hoch also? In eine andere Existenz? War es damit getan, sich ein Pseudonym oder ein Heteronym zu geben, um zu entfliehen, fragte sich der ruhelos Fragende, zum Beispiel als Alberto Caiero, Álvaro de Campos, Antonio Mora oder Ricardo Reis, wie der kleine portugiesische Handelskorrespondent Fernando Pessoa, der nach Dienstschluss Weltliteratur schrieb? Der poetische act des verehrten H. C. Artmann werden, „also“, wie Tom in sein Notizheft schrieb, „gelebtes, realisiertes Dichtertum, ohne Worte, ohne Papier, ohne Druckerschwärze“? Und wie war das, fragte er sich weiter, mit Johann Joachim Winckelmann, der von edler Einfalt und stiller Größe griechischer Kunst träumte und unter sieben Messerstichen eines Mörders in einer Triestiner Absteige starb? Ob der Mann namens Francesco Arcangeli ein Stricher war, blieb offen. So enden manche Höhenflüge und Fluchtversuche.
Das missing link zwischen Traum und Tag: das Glück?
Lamandergrund, das ist Fiktion genug.
Aber Toronto.
Und Saskatchewan.
Da will er hin.
So weit, so hoch.
Mit Elisa.
*
Auf dem Weg zu Parmenides.
Frauen kehrten, Männer kärcherten, Kinder steckten Tore zum Fußballspielen. Es war Frühling geworden. Eine alte Frau saß auf der Hausbank, sie strickte, kurz schaute sie auf und nickte Tom zu, als ob er ihr bekannt wäre seit langem. Traktoren fassten mit der Hebegabel die letzten Siloballen auf und legten sie vor den Stalltüren ab. Die Weidezäune wurden frisch gespannt. Es war das Besänftigende der täglichen Arbeit. Im Autobus nach Kolness saßen nur wenige Leute, im Wenden der Köpfe lag der Wunsch, lieber hier draußen zu sein. Wegmacher der Gemeinde in orangegestreiften Leuchtwesten sammelten die letzten Begrenzungsstangen ein, die dem Schneepflug als Orientierung gedient hatten. Die Wintersaat der Getreidefelder stand eine Handbreit hoch.
Heute Abend: Fernsehen und Fußball. Champions League, Viertelfinale. AC Milan gegen Olympique Lyon. Spannung, Kommentare und Bier. Roberta war wie immer die mütterliche Verwöhnung, die Tom so entbehrte und so genoss.
1 : 0 für Mailand! Tom freute, Parmenides ärgerte sich. Die beiden Mannschaften spielten große Klasse, und es war gut zum Zeit- Vertreiben . Die Spielerunden im Lamanderhaus oder bei Mikram in Summerbach gab es schon lange nicht mehr, Mikram lebte in Scheidung, Tom stand zwischen ihm und seiner Frau, er mochte beide gleichermaßen gern, darum mied er die Zusammenkünfte. Auch war Tom viel für Archiv-Recherchen in Wien und München unterwegs und seltener zu Hause.
Tor! 2 : 1!
Wie kamen sie auf Dionysos? Durch die Männer, die sich nach jedem Tor umarmten und sich aufeinander warfen? Weit hergeholt, aber sie kamen ja immer auf Griechenland.
Dionysos ist das Unerwartete, sagte Parmenides plötzlich und drehte den Fernsehapparat leiser, er ist die Pornographie. Er kam aus dem Blitz des Zeus oder, was realistischer ist, aus der Fremde, vom Osten her. Er war der erscheinende Gott, die Epiphanie der Dynamik, mit Tanz und Spiel, er hat die mythische Extravaganz des Vielgestaltigen. Er gilt als Weiberbetörer und Verführer zur Entgrenzung, du weißt ja, wie grausam er …
3 : 1! Dreh bitte wieder lauter, Parmenides, wo willst du denn hin mit deinem Dionysos? Horch lieber zu, was sie zu diesem genialen Tor sagen!
Und im Lauterdrehen des Geräts, im Gebrüll der Menschenmassen aus dem Lautsprecher und dem Haufen aufeinanderliegender Männerleiber sagte Parmenides: Will nur sagen, dass wir uns selbst nicht kennen, dass wir nicht wissen, wozu wir fähig sind in extremen Momenten unseres Lebens – –
Hör lieber zu und schau dir die Wiederholung an, ist das nicht ein sensationelles
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