An diesem einen Punkt der Welt - Roman
in der Welt drehten sich, waren vorbei oder geschahen gerade erst, Mahmud Ahmadinedschad erklärt den Iran offiziell zur Atommacht, Joseph Ratzinger wird zum Papst gewählt und Angela Merkel zur Bundeskanzlerin, Slobodan Milošević stirbt in einer Gefängniszelle in Den Haag und in Ägypten gibt es die ersten Anzeichen dessen, was man später den „Arabischen Frühling“ nennen wird.
Es zog alles an Tom vorüber.
Schnee und Regen.
Er mied die Menschen und übte sich in der Kunst der Verstellung.
Morgen wollte er zu Franz vom Riedlhof gehen, um Holz für den Winter zu bestellen. Morgen oder übermorgen. An diesem Übermorgen erfuhr er, dass Franz schon vor Monaten gestorben war. Es war an ihm vorübergegangen. Die Arbeit über den Tyrannenmord setzte im feuchten Nordzimmer Schimmel an. Er war so weit weg von allem, auch von Juan de Mariana und Claus von Stauffenberg, er wusste nicht, für wen oder wozu er sich damit auseinandersetzen hätte sollen. Professor Karlinger bat dringend um ein Gespräch, er glaubte an die Qualität der Arbeit. Er, ja, dieser Mann, der so viel tat, um Tom neuerlich zu motivieren, wäre tatsächlich ein Grund, die Arbeit zu Ende zu bringen. Sonst fiel ihm keiner ein.
Er dachte vielmehr an den Lake Superior.
Auffliegen und davon.
Fort.
Es gibt keine Alternative zu fort, sagt Ilse Aichinger.
Fort ist fort.
29
Hin und wieder hörte man Gitarrenspiel aus den offenen Fenstern des Hauses, verhalten, seltsam schattenhaft. Kinder setzten sich an den Straßenrand und hörten eine Weile zu. Manchmal drang ein Schrei dazwischen auf die Straße, dann liefen sie davon. Man sah Licht bis spät in die Nacht, das war nichts Ungewöhnliches. Oft blieb das Haus tagelang dunkel. Am Stammtisch erzählte man sich von einem Wanderer, der zwischen dem Vieh quer über die Weiden ging und im Unwegsamen der Wälder verschwand.
In dieser Zeit wurde Tom von gesteigerten Körperempfindungen gequält. Wenn er zum Ursprung des Lamanderbaches ging und ihn die Zweige der Büsche streiften, war es ihm, als ob sie ihn peitschten; im stickigen Sitzungszimmer von GO FOR BETTER wurde ein Fenster geöffnet und der Luftzug, so hatte er den Eindruck, trug ihn in ein Eck des Zimmers; das Pferd beim Schach fiel zufällig um, der Ton wurde ihm zum Knall und er hatte den Wunsch, mit dem Pferd davonzureiten.
Du halluzinierst, sagte Roberta, du isst einfach zu wenig und rauchst zu viel, von Bier allein kann man sich nicht ernähren.
Auf dem Verandabett hatte der Wind ein Eichenblatt abgelegt.
Der Atem vieler Menschen zog durch die Welt.
Irgendwann waren alle Chancen vertan.
Irgendwann war es wirklich zu spät.
Aus jenen Monaten ist ein undatierter Mailentwurf an Pater Lukas erhalten, der offensichtlich die Antwort auf eine Frage des Geistlichen war und den Tom in dieser Form nicht abgeschickt, jedoch in seinem Notizheft aufbewahrt hat, im Sprachgestus flapsig wie immer, wenn es um letzte Dinge ging:
Lukas, lieber Freund unter den Lebendigen,
was soll ich dir antworten? Nein, ich sterbe nicht gerne, ich hasse die Vorstellung, dass ich einmal nicht mehr da bin und alles geht weiter! Und ich kann den neuesten Wolf Haas nicht mehr lesen und den neuesten Erich Hackl, dessen lakonischem Sprachgestus ich rettungslos erliege und dessen selbstverständlich zugrunde gelegte politische Haltung sich mit meiner eigenen auf für mich wundersame Weise deckt. Und ich kann die neueste Frühlingsluft nicht mehr einatmen (wie viele Frühlinge erleben wir eigentlich?) oder den Hauch vor dem Mund sehen, wenn es friert.
Das mit dem Tod ist schon so eine Sache. Johannes, mein genialer Autist, sagt: „I bin oam, i bin Fleisch.“ Mehr haben auch die intelligentesten Philosophen über die Jahrhunderte hinweg über die Lage des Menschen nicht herausgebracht. Es tut irgendwie weh, sich dieser Realität zu stellen.
Wie du weißt, habe ich im Oberdorf einen väterlichen Freund, mit dem ich über die vielfältigsten Dinge habe reden können. Derzeit ist Funkstille, was mir ebenfalls weh tut. Aber allein die Vorstellung, dass er irgendwann in den nächsten dreißig Jahren sterben könnte, macht mich jetzt schon vorsorglich krank. (Die gleiche Vorstellung verfolgt mich letztlich mit allen Leuten, die ich mag.)
Aus dem allen jedoch noch irgendwelche Schlüsse zu ziehen, ermüdet mich. Meine Idiosynkrasie dem Tod gegenüber halte ich für dekadent und unweise, aber ich kann noch nicht anders. Natürlich sollte man den Tod als naturgegeben ins
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