An diesem einen Punkt der Welt - Roman
begnadeter Motivator, dieser Tom. Gläubig, chaotisch, subversiv. Die schriftlichen Zeugnisse über ihn sind gegensätzlich. Die einen hielten ihn für „eine Vitalfigur, die nichts umhaut, weder körperlich noch geistig“, die anderen für einen hochsensiblen Typen, „unermüdlich in seiner Hilfsbereitschaft und dem Bemühen, die Welt ein wenig bunter zu gestalten in seiner nie enden wollenden Lust auf ein anderes Leben“; und wieder andere für einen Menschen, von dem man nicht genau wusste, wer er wirklich war, der in seinem Lamanderreich „vergraben, aber immer für eine Überraschung gut war, wenn er wieder auftauchte“. Und: „Wo auch immer Menschen wie Thomas N. leben, wird Kultur blühen.“
Die literarische Nahversorger-Szene jedenfalls lebte von einer Reihe von Idealisten, die Tom durch seine stille Hartnäckigkeit fesselte, sowohl den Kern der ersten Stunde, darunter verspätete 68er, als auch eine Schar neuer, junger Leute. Außerdem starke Persönlichkeiten, die in der Gesellschaft verankert waren, wie Elfriede, die an den Rollstuhl gebunden und eine große Leserin, keineswegs jedoch hilfsbedürftig war, sondern allen mit größter Verlässlichkeit zur Seite stand, oder wie Leonhard, der viele Talente und Professionen in sich bündelte und die Anliegen des Literaturladens in den Regionalzeitungen popularisierte. Das Lesungs-Programm mit internationalen Autorinnen und Autoren wurde intensiviert, die Vierteljahres-Literaturzeitschrift brachte Buchbesprechungen, Vor- und Nachworte zu den Lesungen und grundsätzliche Überlegungen zu Dichtung, Film und Musik.
Es war ein ungewöhnliches Programm, eine ungewöhnliche Zeitschrift, Pionierarbeit mit Erfolgen und Rückschlägen.
Wisst ihr, was wir tun müssen?, fragte Tom in die Runde.
Bestsellerautoren bringen –
Mehr Krimis –
Mehr Heimatliteratur –
Vielleicht etwas über Gesundheit, Sport –
Vielleicht weniger anspruchsvoll –
Im Gegenteil, sagte Tom, lehnte sich zurück, rauchte und sagte mit großer Ruhe: Im Gegenteil, bien au contraire. Wir wollen nicht Sandkasten spielen, sondern – wenn ich schon bei Metaphern bleibe – widerborstige Gedanken ausstreuen wie Sand am Meer, vielleicht auch einmal jemanden in die Wüste schicken. Es gilt nur eins: allerhöchster Anspruch, ob Bestseller, Krimi, Heimat oder was immer, ist egal, gut müssen die Bücher sein, müssen etwas zu sagen haben zu unserer Gegenwart und dem, was uns unter den Nägeln brennt. Oder auf andere Weise weitertragen, dorthin, wo wir etwas erinnern, was wir noch nie gesehen, in einer Sprache, die wir noch nie gehört haben. Texte, die uns etwas erzählen über unser Dahinstrudeln zwischen Hölle und Halleluja – – Und Tom stand auf, versuchte ein Lachen, schaute in die Runde, aus der keine Gegenstimme mehr kam, strich sein nackenlanges Haar zurück, ein paar graue Strähnen waren darin, Fünftagebart, verwaschener Pullover, ausgebeulte Jeans, offene Schuhbänder, offener Raum.
Stundenlang machte Tom jede Dodlarbeit , sagte Leonhard später, bis in die Nacht hinein stand er am Kopiergerät, 400 Exemplare der Literaturzeitschrift mussten kopiert, gefalzt und geheftet werden, Geld für eine gedruckte Version gab es damals noch nicht. Wenn er nicht gewesen wär, hätten wir wahrscheinlich längst aufgegeben. Selbst dann, wenn’s ihm schlecht gegangen ist, war er wie ein Transmissionsriemen. War verschwenderisch und in gewisser Weise störrisch wie ein Geißbock. Als es Stimmen gab, die Zeitschrift zu perfektionieren oder sie in einer Art Endzeitstimmung ganz einzustellen, hat er die Diskussion einfach mit den Worten beendet: … es soll schon so bleiben, so spielerisch, lustvoll und spontan, low-budget-mäßig, unlackiert und ungestylt und zeitweise hart die Grenze zum Dilettantischen entlangschrammend …
Obwohl auch ihn Zweifel gequält haben, ob unsere Arbeit nicht sinnlos ist, warf Matthias ein.
Aber er hat nicht resigniert, sagte Elfriede, im Gegenteil: Er hat ein Dutzend Verbesserungsvorschläge gemacht, einen Aufruf für öffentliche Debatten und Diskurse geschrieben, einen Erlagschein beigelegt und in einem P.S. angefügt: „Sind wir nicht auch so etwas wie ‚Licht ins Dunkel‘? Und überhaupt: Ist da jemand?“
„Was für eine Anhänglichkeit an die Mühen der Aufklärung! Was für eine Verweigerung! Was für eine Hingabe!“ So schrieb Tom zum Tod des Dichters und James Joyce-Übersetzers Hans Wollschläger.
Das ist Toms beste Selbstdefinition, sagte
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