An diesem einen Punkt der Welt - Roman
sogar ein Mann schreibt wie Philip Roth, der dreißig Jahre älter ist als ich, was steht mir da noch bevor?
Tom war ausgelöscht. Deleted. Wider alle Vernunft.
Könnte wirklich noch alles gut werden , wie Roberta hoffte? Er lebte ja noch. Hatte sich kein Auge durchschossen, weder das linke noch das rechte und auch nicht beide auf einmal. Aber er konnte weder verzeihen noch dauerhaft wütend sein.
Er tat, was verlangt war, die realen Dinge. Tom konzentrierte sich jetzt auf die tschetschenischen Asylwerber.
Nicht das auch noch!, sagten seine Gegner, lässt der denn gar nichts aus?
Aber Tom griff einfach auf, was die Zeitgeschichte anspülte, was der Tag brachte. Und er brachte Flüchtlinge. Sieben Familien, neunzehn Kinder, die verstreut in der Region untergebracht waren. In der Dorfschule ließ Tom Kleider, Spielzeug und Gebrauchsgegenstände sammeln. Sind eh nur Sachen, die die Leut’ wegwerfen wollen, ließ KaO Richter verlauten, der zum Boykott der Aktion aufrief. Aber das Ergebnis war überwältigend, aus welchem Grund auch immer.
Eines Nachts brannten sechs Fackeln vor dem Gemeinschaftsraum der Flüchtlinge am Bahnhof. Auf einem Schild stand: Wir fackeln euch ab, wenn ihr nicht verschwindet. Nach einem Hungerstreik der männlichen Asylanten, der ihrem Wunsch wenigstens nach Teilzeitbeschäftigung Nachdruck verleihen sollte, war die Reaktion von rechter Seite: Verhungert nur, es ist eure Entscheidung. Toms Vorschlag, Flüchtlingskinder am Sonntag in heimische Familien einzuladen, stieß auf Widerstand, sie in die Sportvereine zu integrieren war leichter durchzusetzen. Aber es kam vor, dass die einheimischen die fremden Kinder verprügelten oder umgekehrt, dass tschetschenische Frauen Geschenke zurückwiesen, Kinder nicht mehr zum gemeinsamen Fußball kommen wollten, einzelne Gruppen sich wieder verschlossen. Zeichen von Scham, Demütigung und Hoffnungslosigkeit. Tom gab nicht auf. Er stellte ein Stück Grund am Ufer des Lamanderbaches zur Verfügung, die Werkstatt von Leonhard spendete Holz, Florians Firma Nägel und Schrauben und die zugewanderten Männer, von denen zwei Zimmerleute waren, bauten ein eigenes kleines Haus zum Theaterspielen, eine Bühne, Sitzreihen, zwei Tische für Erfrischungen. Es war ein Hämmern, Rufen und Lachen, es war eine kurze, glückliche Zeit, auch für Tom. Es wurde pantomimisches Theater gespielt und Musik gemacht, dazu brauchte man keine Sprache.
Großstadtjournalisten mochten die Aktionen als harmlos beschreiben, wie das so ist, wenn sich die Wucht sowohl des Protests als auch der Hilfe bis in die Provinz verläuft. Aber es ist ein Anfang, sagte Tom, wenigstens ein Anfang.
So ein Kasperltheater, sagte KaO Richter bei einer Wahlversammlung.
Und ein Parteigenosse ergänzte in einem Interview: Dieser Thomas N. trägt das Gut-Sein vor sich her wie einen dicken Bauch. Sogar um das Kanakengesindel von Tschetschenen nimmt er sich an, statt sich um unsere eigenen Arbeitslosen zu kümmern. So eine lächerliche Alibiaktion!
Ende des Jahres wurden die Flüchtlinge plötzlich nach Vorarlberg verschickt. Niemand wusste, warum. KaO Richters Einfluss? Ja, verschickt , sagte Tom, er wählte das Wort mit Absicht und erinnerte an die Kindertransporte von 1938. Proteste halfen nichts.
Als die tschetschenischen Familien im Aufbruch waren, klopfte früh am Morgen der achtjährige Aptil an die Tür des Lamanderhauses. Er nahm Tom an der Hand und führte ihn zur Theaterhütte. Spielte ihm mit einer Stoffpuppe einen herzzerreißenden Abschied vor und schenkte ihm anschließend die Zottelhexe.
Man hat sie später, auf einem Brett sitzend, in einer Bücherstellage gefunden, von wo aus sie auf Toms Schreibtisch niederblickte. Es sah aus, als ob sie lachte.
*
Die Wildgänse kamen an den Lamanderteich, die Wildgänse verließen ihn und sie kamen wieder. Tom saß auf seinem geheimen Fluderplatz und sah ihnen zu. Er war im schwarzen Loch. Die Tschetschenen waren fort, die begeisterte Aktivität verrauscht. In der Gemeinde war Routine. Auf dem Spiegel hingen keine Zettel mit guten Sprüchen mehr. Mit großer Überwindung suchte er einen neuen, er fand Georg Trakls „Rondel“, entschied sich dann aber für Ror Wolfs „Wetterverhältnisse“:
es schneit, dann fällt der regen nieder,
dann schneit es, regnet es und schneit,
dann regnet es die ganze zeit,
es regnet und dann schneit es wieder.
„Aussichten auf neue Erlebnisse“ heißt das Buch. Die Erlebnisse und Ereignisse irgendwo draußen
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