An einem Tag im Januar
stierenden Augen erzählt, von dem unnatürlichen Winkel seines Halses. Von dem Drang, seinen Sohn in die Arme zu nehmen, während er doch wusste, dass er ihn keinen Millimeter bewegen durfte. Mark hatte ihr erzählt, wie er mit Brendan geschimpft hatte an diesem Samstagvormittag, während Chloe mit ein paar Freundinnen zu Mittag aß. Dass Brendan einen Tobsuchtsanfall hingelegt hatte und von ihm in sein Zimmer geschickt worden war. Dass er die Zeit aus dem Blick verloren hatte über dem Basketballspiel der Buckeyes, das im Fernsehen lief. Dass Brendan dieses Spiel eigentlich mit ihm zusammen hätte anschauen sollen. Dass er unter normalen Umständen – mit etwas mehr Aufmerksamkeit, ohne die beiden Whiskey-Cola – hätte hören müssen, wie Brendans Zimmertür aufging und Brendan in seinen Turnschuhen den Flur entlangschlich. Dass er – wenn er es gemerkt hätte – sicher aufgestanden wäre und nach oben gerufen hätte: Brendan! Gehst du zurück in dein Zimmer!
Dass er stattdessen nur das jähe, grauenhafte Poltern auf der Treppe gehört hatte. Einen scharfen Aufschrei, der mittendrin abbrach. Und auf den hin er – eine lange Zeit, zu lange – starr auf dem Sofa gesessen und auf Brendans sirenenartiges Geheul gewartet hatte. Um stattdessen in die Stille hineinzulauschen.
All das hatte er Allison erzählt. Und noch mehr.
Er hatte ihr erzählt, wie er auch Chloe verloren hatte. Wie es schon im Jahr vor dem Unfall zwischen ihnen gekriselt hatte, wie sie immer ungeduldiger miteinander geworden waren. Er hatte ihr von ihren Streitereien in den Wochen vor Brendans Unfall berichtet. Vom Nachmittag des Begräbnisses, als Chloe vor seiner Berührung weggezuckt war. Von den Monaten, die sie danach versucht hatten, in ihrem alten Haus wohnen zu bleiben, vergebens – auch nachdem Mark und Lewis einen ganzen Nachmittag Marks und Chloes Schlafzimmermöbel in das Arbeitszimmer im Erdgeschoss hinuntergeschleppt hatten, damit sie die Treppe nicht mehr zu benutzen brauchten.
Er hatte Allie von den Monaten in der kleinen Wohnung in Short North erzählt, wo er und Chloe wieder zueinanderzufinden versucht hatten. Von seinem allabendlichen Bemühen, die Balance zwischen möglichst viel Alkohol und möglichst wenig Kontrollverlust zu finden, statt mit Chloe zu reden – statt darauf zu bestehen, dass sie miteinander reden mussten. Er hatte Allie von Chloes unvermitteltem Entschluss erzählt, die Scheidung einzureichen. Von seinem Weinen, seinem Bitten und Flehen, sie möge es sich noch einmal überlegen, während er insgeheim doch wusste, dass es aus war.
Er hatte Allie von den Frauen erzählt, die er nach der Trennung von Chloe kennengelernt und nicht zu lieben vermocht hatte. Von seinen Schuldgefühlen in seiner ersten Nacht mit Harriet – als wäre er ein Ehebrecher. Davon, wie er schließlich zu seiner Schande einfach aufgehört hatte, ihre Anrufe zu beantworten. Wie er ganze Monate hindurch aus dem Bett aufgestanden war, sein Pensum abgearbeitet und sich abends wieder schlafen gelegt hatte, ohne irgendetwas zu fühlen, wie ein Monster, das durch Stromstöße zu einem geborgten Leben erwacht.
Wie er während dieser Zeit sein Leben und seine Umgebung aus der Distanz zu betrachten begonnen hatte, als bewegte er sich in einer ruhigen, niedrigen Umlaufbahn ein Stück über dem Boden. Und wie es zuletzt die Wut war, die ihn aus diesem Zustand herausriss. Wie er – erstmals am Morgen des 11. September, und dann, je stärker der Wahnsinn im Kielwasser der Anschläge um sich griff, immer mehr – das Gefühl bekam, dass das restliche Land genauso zerschunden und verletzt war wie er. Dass es auch andere ereilen konnte. Dass nun endlich der Rest der Menschheit in der Welt angekommen war, in der er schon so lange lebte.
Sogar von seiner langgehätschelten Paranoiker-Phantasie hatte er Allie erzählt: dass nämlich Brendans Tod ein Vorgriff auf das langwierigere, langsamere Sterben der ganzen Welt war. Bis tief in die Nacht hatte er wachgesessen und im Netz immer neue Anzeichen für das Ende aller Dinge gefunden. Die Verbrechen der Bush-Regierung. Ausschöpfung der Ölreserven. Hurrikane, Tsunamis. Prediger, die immer mehr wie Politiker klangen; Politiker, die immer mehr wie Prediger klangen. Und niemand, das sah er immer deutlicher, wusste, wohin es ging. Brendans Tod war nur das erste Siegel gewesen, und nun würde die ganze Welt von den Flammen verzehrt.
Allison, auch das hatte er ihr gesagt, hatte geholfen, ihn aufzuwecken.
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