An einem Tag im Januar
Unglück.
Nein, sagte Beth, nicht gerauft.
Sie kam frisch vom College, eine hübsche, idealistische junge Frau mit glänzend schwarzem Haar, das sie im Nacken zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden trug. Jetzt schwammen ihre Augen vor Anteilnahme. Sie hätte Chloe sein können, Chloe vor einem knappen Jahrzehnt.
Ich sage das nicht gern, aber Brendan ist von den anderen gemobbt worden. Sie haben sich über ihn lustig gemacht. Er war völlig aufgelöst.
Worauf Chloe sie mit wütenden Fragen bombardierte, die Beth bedächtig beantwortete. Nein, den Grund wisse sie noch nicht; keiner von den Jungen wollte bisher mit der Sprache herausrücken. Ja, sie habe die anderen Jungen zurechtgewiesen und ihre Eltern ebenfalls zu einem Gespräch gebeten. Und – das müsse sie leider sagen – sie mache sich Sorgen um Brendan. So etwas könne sich leicht verselbständigen. Das könne Chloe als Lehrerin ja sicher bestätigen.
Chloe, so geladen sie war, nickte.
Beth sagte: Er ist so ein kleiner Gentleman, ich begreife nicht, warum die Jungs so was machen.
Mark bot an, Brendan nach Hause zu bringen, damit Chloe zu einem Gespräch von Lehrerin zu Lehrerin bleiben konnte.
Im Auto sagte er: harter Tag, hmm, Kumpel?, und Brendan nickte abweisend.
Statt direkt heimzufahren, nahm Mark den Umweg über die Eisdiele. Sie setzten sich ins hinterste Eck und teilten sich einen Eisbecher, Brendan vornübergebeugt in seinem grauen Sweatshirt – seinem Lieblings-Sweatshirt, das Brutus Buckeye beim Losstürmen zeigte. Brendan, merkte Mark, war nicht geknickt, er war stinkwütend. Seine Lippen waren zusammengekniffen, und er umklammerte den Löffel so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.
Mark versuchte ihn als Paria zu sehen. Als den Außenseiter, über den man herzog. Aber von seiner hektischen Färbung abgesehen wirkte er so normal wie immer. Er war groß, er sah nett aus. Er roch nicht komisch, er trug die richtigen Kleider, er hatte einen coolen Haarschnitt. Ein ruhiger Junge, ja, ein ernsthafter Junge, aber trotzdem umgänglich. Ein Junge, der anderen die Tür aufhielt, der Bitte und Danke sagte.
Nach und nach entlockte Mark ihm seine Version der Geschichte. Es war um ein Spiel gegangen, einen Wettbewerb. In einem Graben am Rand des Schulhofs, außer Sichtweite der Lehrer, hatte sich eine Eisbahn gebildet, und ein paar von den Jungs hatten dort einen Slide hingelegt wie beim Baseball. Einer war sogar kopfvoran über das Eis geschlittert. Irgendwer hatte Brendan aufgefordert, es auch zu probieren, aber er wollte nicht – er hatte Angst, sich den Kopf anzuschlagen oder die Hände aufzuschrammen wie ein paar von den anderen. Und dann …
Dann hat David Helton ein Schimpfwort zu mir gesagt, berichtete Brendan.
Auch Mark war als Kind im Pausenhof gehänselt worden, weil er ein ernster, schüchterner kleiner Junge war, der statt Football zu spielen lieber Superhelden in sein Skizzenbuch malte. Waschlappen hatten sie ihn genannt, Schlappschwanz, Schwuchtel.
Was für eins denn?
Ein ganz schlimmes, sagte Brendan.
Du kannst es trotzdem sagen.
Sie haben Weichei gesagt. Und Brendan setzte eilig hinzu: Und ich hab gesagt, so was sagt man nicht, und da haben sie mich ausgelacht.
Wenn Brendan es einfach ignoriert hätte, da war Mark sicher, dann wäre nichts weiter passiert. Aber Brendan hatte wie ein Streber reagiert – wie seine Mutter –, und jemand hatte gelacht, und Brendan hatte das Verkehrteste gemacht, was er in seiner Lage tun konnte, und zu weinen angefangen. Das war das Signal für die Piranhas gewesen.
Mark sah lebhaft vor sich, wie sich der Kreis bildete. Wie immer mehr Kinder mitskandierten. Und Brendan – der wie sein Vater eine Neigung zum Weglaufen, zur Panik hatte – hatte wahrscheinlich sein Gesicht und seine Tränen zu verstecken versucht. Marks Herz blutete für ihn, denn er wusste, es stimmte: Brendan war ein Weichei. Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm.
Du weißt, dass sie nicht recht haben, sagte Mark. Oder, Kumpel?
Nein, sagte Brendan, und einen Moment lang hatte Mark das unheimliche Gefühl, dass Brendans Nein seinem Tröstungsversuch galt: Ich bin eins. Ich hab geheult.
Den ganzen Abend und auch noch am nächsten Morgen war Brendan mürrisch und verschlossen gewesen. Er war an Marks Rockzipfel gehangen. Und Mark …
Mark hatte seine Ruhe gewollt.
Unerledigte Aufgaben? Ein ungesühntes Unrecht?
Mark und Chloe hatten am Abend vor dem Unfall, als Brendan schon im Bett war, Streit gehabt. Es
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