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An einem Tag im Januar

An einem Tag im Januar

Titel: An einem Tag im Januar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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so sehen. Eine Möglichkeit wäre, dass er hier ist, weil es irgendeinen Unfall gegeben hat.«
    »Hat es ja auch.«
    »Ich meine, nach seinem Tod«, sagte Lew. »Was immer eigentlich mit ihm hätte passieren sollen, ist falsch gelaufen. Brendan ist nicht da angekommen, wo er sollte. Oder er hat sich auf dem Weg dahin verirrt.«
    Lew schrieb links Unfall hin. »Vielleicht ist es nur das. Nur eine kosmische Panne. Er hat sich verirrt, und jemand muss ihm den Weg zeigen. Lassen wir erst mal außer Acht, was das alles heißen könnte, sonst kommen wir total in den Wald. Aber wenn das der Grund wäre, dann kann dieses Medium, das Chloe aufgetan hat, vielleicht – vielleicht! – helfen.«
    »Nur …?«
    »Nur«, Lew senkte die Stimme, »gibt es eben auch noch die kleine Anzahl von ungefähr einer Million Geschichten über Geister, die kein Zufallsprodukt sind. Geister mit einer Mission.«
    Wieso hatte Mark es versäumt, Chloe diese grundlegendsten aller Fragen zu stellen? Warum ist Brendan noch hier? Was will er? Hat er dir das gesagt? Jede einzelne davon hatte er gewälzt in diesen letzten Wochen, wenn er dalag und ins Dunkel starrte. Und Chloe hatten sie sicher auch umgetrieben in ihren schlaflosen Nächten. Sie hatte ihm dazu nichts gesagt. Nur dass sie glücklich war. Dass Brendan auch glücklich schien.
    »Gut, fangen wir mit den unwahrscheinlichsten Gründen an«, sagte Lew. »Niemand hat ihn umgebracht, also können wir Rache von der Liste streichen. Aber.«
    Er schrieb: Gebeine/Körper nicht zur Ruhe gebettet .
    Lew hatte mit Mark und zwei anderen den Sarg getragen; er und Sam hatten Mark am Ellbogen gehalten, während sie zusahen, wie Brendans kleiner Sarg in die Erde gesenkt wurde. Und es war Brendan gewesen in dem Sarg – Mark und Chloe hatten sich gegen eine offene Aufbahrung entschieden, doch zwischen dem Gottesdienst und dem Begräbnis hatte Chloe ihn noch ein letztes Mal sehen wollen, und Mark war widerstrebend mit ihr mitgegangen, und sie hatten ihn liegen sehen, in Samt gebettet, so still und reglos in seinem dunkelblauen Anzug. Mark hatte beide Arme um Chloe schlingen müssen, damit sie sich nicht über den kleinen Körper warf, ihn herauszuheben versuchte. Wenn er die Augen schloss, spürte er sie bis heute zappeln und zucken, fast als steckten Blitze in ihr.
    »Nein«, sagte er.
    Lewis nickte, dann schrieb er: Unerledigte Aufgaben .
    »Ein großer Wunsch, der unerfüllt geblieben ist«, sagte er. »Eine versäumte Pflicht. Irgendwas in der Art.«
    Brendan war gerade sieben geworden. Sein Denken war das eines Kindes gewesen. Der letzte Wunsch, den er geäußert hatte, war, seine Spielsachen nicht aufräumen zu müssen. Stattdessen wollte er irgend so ein Scheiß-Brettspiel spielen.
    Brendan hatte den ganzen Vormittag an Mark hingequängelt: nur eins, bitte! Mensch-ärgere-dich-nicht! Nur ein einziges Mal! Bitte? Dad, bitte? – seine Stimme von Mal zu Mal schriller, bis sie schließlich diesen hysterischen Wimmerton erreichte, bei dem Mark immer die Augen zukneifen musste.
    Zuletzt hatte Brendan mit dem Fuß gegens Sofa getreten und die Fäuste geballt: Du sollst mit mir ein Spiel spie-lään!
    Jetzt reicht’s, hatte Mark gesagt. Und dann kamen aus seinem Mund die letzten Worte, die sein Sohn von ihm gehört hatte: Du gehst jetzt sofort in dein Zimmer und wagst dich erst wieder raus, wenn du fertig aufgeräumt hast!
    »Er war erst sieben«, sagte Mark. »Sein ganzes Leben war verdammt noch mal unerledigt.«
    »Natürlich.« Lew sprach so gleichmäßig und vernünftig wie ein Erzieher. »Aber es muss ja nichts sein, was uns wichtig erscheint. Hast du mir nicht erzählt, dass irgendwas in der Schule passiert war? Irgendein Streit?«
    Tatsächlich war am Tag vor dem Unfall etwas vorgefallen. Brendans Lehrerin, Beth Reilly, hatte Brendan nach der Schule dabehalten und Mark und Chloe zu sich bestellt. Sie hatten auf dem Gang vor dem Klassenzimmer gestanden, und Beth hatte ihnen mitgeteilt, dass es am Nachmittag auf dem Schulhof zu einem Zusammenstoß zwischen Brendan und einer Gruppe anderer Jungen gekommen war.
    Hat er sich gerauft?, fragte Mark verblüfft. Durch das Fensterchen hoch oben in der Tür zum Klassenzimmer konnte er seinen großen, linkischen Brendan an einem der Spieltische drinnen sehen, wie er zusammen mit einem kleinen blonden Mädchen ein Legohaus baute. Er schaute konzentriert, die Lippen geschürzt, aber seine Schultern – Mark sah es deutlich – waren steif vor Scham und

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