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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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einem Bombenangriff während des Blitz ums Leben gekommen, und deine Mutter ist anderthalb Jahre später an einer Herzkrankheit gestorben. Nach ihrem Tod hat man dich und deinen Bruder in ein Waisenhaus gebracht, aus dem eure Tante Rachel Taylor euch wieder herausgeholt hat, um euch zu sich zu nehmen.«
    Unten blitzte zwischen den Bäumen das Licht eines vorüberfahrenden Fahrrads auf. London hatte abends immer etwas Melancholisches, dachte India.
    Sie drehte sich ihm zu. »So wie du das sagst, Marcus, klingt es so, als hätte sich niemand um uns gekümmert. Und zum Teil war es ja auch so. Wir sind durch die Maschen gerutscht, Sebastian und ich. Aber Rachel hat sich gekümmert. Sie hat nach uns gesucht. Und für uns gesorgt.«
    Â»Du hast sie geliebt.«
    Â»Ja, ich habe sie geliebt.« Rückblickend fragte sich India, ob Rachel sich schuldig gefühlt hatte, weil sie den Kontakt zu ihrer jüngeren Schwester verloren hatte und nicht da gewesen war, als die Polizei bei ihr geläutet hatte, um sie von Lucindas Tod zu benachrichtigen. Sie hatten ihr eine schriftliche Meldung hinterlassen. Es war das Jahr 1942 gewesen, und überall waren die Menschen gestorben.
    Â»Rachel war eine wunderbare Frau«, sagte sie. »Liebevoll und herzlich, und sie war nie böse, nicht einmal wenn ich etwas angestellt hatte, nicht einmal als Sebastian krank war. Sie musste beruflich sehr viel reisen, deshalb hat sie meinen Bruder und mich in ein Internat gegeben.«
    Â»Aber das war nichts.«
    Â»Nein, jedenfalls nicht für Sebastian. Und für mich …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe da nicht hingepasst. Wie auch?«
    Â»Hast du deshalb gestohlen? Weil du dich in der Schule nicht wohlgefühlt hast?«
    Â»Nein, deswegen bestimmt nicht. Ich habe doch gesagt, du würdest es nicht verstehen.« Sie schnippte Zigarettenasche auf den Teppich. Gereizt stellte Marcus ihr einen Aschenbecher aufs Fensterbrett. »So, und jetzt lass zur Abwechslung mal mich raten«, sagte sie. »Ich nehme an, du hattest Eltern, die dich geliebt und umsorgt haben. Umsorgt zu werden ist genauso wichtig wie geliebt zu werden, das weiß ich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du jemals hungrig zu Bett gegangen bist, und du hast wahrscheinlich auch nie erfahren, wie es ist, völlig allein zu sein. Du warst bestimmt auf einer guten Schule und hast mit deiner Intelligenz geglänzt. Danach hast du vermutlich in Oxford oder Cambridge studiert, und ich nehme mal an, du hast auch dort geglänzt.«
    Â»Keine schlechte Zusammenfassung meiner frühen Jahre. Ich darf vielleicht ergänzen, dass ich unser Familienleben erdrückend fand und dass ich dank der Ermutigung durch meinen Chemielehrer in der Schule das Glück hatte, sehr früh zu wissen, was ich mit meinem Leben anfangen wollte.«
    Â»Wie wunderbar, wenn sich alles so fügt. Die glänzende Karriere und die Heirat mit Alison. Du hast dir bestimmt nie Sorgen machen müssen.«
    Â»Falsch«, widersprach er.
    Sie setzte sich zu ihm aufs Sofa und zog die Beine hoch. »Na, warum denn schon?«, fragte sie geringschätzig. »Weil deine Katze von einem Auto überfahren wurde? Oder weil irgendein Mädchen, in das du verknallt warst, dich abblitzen ließ? Wirklich Pech, aber so was kommt vor.«
    Â»Meine erste Frau ist ein Jahr nach unserer Hochzeit gestorben.«
    Das erschütterte India nun doch. »Oh. Wie schrecklich. Wie ist das passiert?«
    Â»Eine Infektion.« Sein Lächeln war angespannt. »Es ist lange her. Damals vor dem Krieg gab es noch kein Penicillin.«
    Â»Du hast nie etwas davon gesagt.«
    Â»Wir beide reden ja auch nicht unbedingt über das Wesentliche im Leben. Rosanne und ich waren sehr jung. Ich hatte kurz vorher meinen Abschluss in Cambridge gemacht und war nach Amerika gegangen, um dort zu arbeiten. Unser Optimismus war unerschütterlich, wie das bei sehr jungen Menschen eben so ist, und wir waren felsenfest überzeugt davon, dass auf uns das perfekte Leben wartete.« Er verzog den Mund. »Nachdem es passiert war, habe ich gelernt, dass es einen gewissen Blick gibt, der sagt: Ich möchte eigentlich nichts davon wissen . Die Leute hören bei solchen unglücklichen Geschichten lieber weg, denn sie erinnern sie daran, wie zerbrechlich ihr eigenes Glück ist. Ich bin dann so schnell wie möglich nach England zurückgegangen. Ein, zwei gute

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