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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Ellen auf, wusch sich und kleidete sich an, dann ging sie hinaus ins Freie. Ihre Augen fühlten sich an wie verklebt, und sie hatte Kopfschmerzen. Der Wind hatte nachgelassen, doch am Himmel trieben Wolken, graue Inseln, Spiegelungen der anderen Inseln, die schwerelos auf dem Wasser schwebten. Vorplatz und Rasen waren übersät von Zweigen und Ästen, die der Sturm abgerissen hatte. Sie hatte keine Hoffnung, dass die frische Luft sie von Niedergeschlagenheit und Müdigkeit befreien würde; sie wusste, dass die Ereignisse der vergangenen Nacht eine solche Erleichterung nicht zuließen. Aber sie war froh, dem Haus entkommen zu sein.
    Auf der obersten Terrasse stellte sie sich an die niedrige Mauer direkt über dem Abgrund. Ihre Höhenangst war weg, vertrieben von einer viel schlimmeren Angst. Der Traum, in dem sie von dieser Terrasse in die Tiefe gestürzt war, fiel ihr ein, jener Traum, in dem sich das Ereignis von Dr. Redmonds Tod niedergeschlagen hatte, und sie fragte sich, warum dieses Geschehen sie so lange beschäftigte. Sie waren nicht befreundet gewesen; sie hatte ihn ja kaum gekannt, aber die Erinnerung an jenen Abend hatte sich in ihr festgesetzt. Alecs Mutter hatte davon gesprochen, dass gewisse Ereignisse ein Echo hinterließen, das jahrelang nachhallte, doch bei Ellen hatte Marguerite Hunters Obsession nur einen heftigen, instinktiven Widerwillen hervorgerufen. Zum ersten Mal sah sie ihr Verhalten nach Dr. Redmonds Tod mit Marcus Pharoahs Augen und erkannte, dass sie mit ihren neurotischen Phantasien und ihrer hysterischen Reaktion ihre Karriere zerstört hatte, so wie jetzt Marguerite Hunter ihre gemeinsame Zukunft mit Alec zu zerstören suchte.
    Laub raschelte, und dann trottete Hamish, der Scotchterrier, auf die Terrasse. Er kam zu ihr, und sie streichelte ihn, ein wenig getröstet von der Wärme seines kleinen Körpers. Tief unter ihr im Haus wurde eine Tür zugeschlagen. Mit Hamish auf dem Arm schaute Ellen hinunter zu Alec, der über den Rasen hinter dem Haus schritt. Hin und wieder verschwand er auf seinem Weg durch den Garten hinter Bäumen, und jedes Mal, wenn er wieder auftauchte, war er ein Stück höher gestiegen, bis er durch die Sträucher trat, welche die Terrasse umgaben.
    Â»Du bist früh auf«, sagte er und trat neben sie. »Alles in Ordnung? Du siehst blass aus.«
    Â»Wusstest du, dass deine Mutter nachts auf den Dachboden hinaufsteigt, um nach dem Boot deines Vaters Ausschau zu halten?«
    Ein Stirnrunzeln. »Immer noch?«
    Â»Heute Nacht war sie jedenfalls dort.«
    Â»Sie ist gern da oben, sie mag die Aussicht.«
    Sie forschte in seinen Zügen nach Zeichen von Verschleierung und Ausflucht. »Sie geht hinauf, um nach deinem Vater zu suchen«, erklärte sie klar und entschieden.
    Â»Nein, Ellen, das stimmt nicht.«
    Â»Sie ist überzeugt, dass etwas von deinem Vater weiterexistiert. Das hat sie mir selbst gesagt. Sie hat es ein Echo genannt.«
    Â»Was sagst du da? Dass meine Mutter sich einbildet, den Geist meines Vaters zu sehen?«
    Sie hörte an seiner Stimme, wie aufgebracht er war, aber sie ließ nicht locker. »Nein, ich sage nur, dass etwas in ihr immer noch hofft, dass dein Vater zurückkommen wird.«
    Â»Und dafür verurteilst du sie?«
    Â»Ich verurteile sie nicht. Aber so wie deine Mutter mit mir geredet hat, Alec, hätte man meinen können, dein Vater wäre vor sechs Monaten gestorben oder vielleicht vor einem Jahr, aber ganz bestimmt nicht schon vor vierzehn Jahren.«
    Â»Sollen wir jetzt der Trauer eine zeitliche Grenze setzen? Zwölf Monate – und wenn dann nicht Schluss ist, dann ist es – was? Ein Zeichen von Verrücktheit?«
    Der Hund, dem vielleicht der Klang ihrer Stimmen nicht behagte, entschlüpfte Ellens Armen und trottete hügelabwärts.
    Â»Gestern Nacht«, sagte Ellen langsam, »habe ich mich dabei ertappt, Alec, dass ich zum Fenster hinausgeschaut und auf dem Meer nach dem Boot gesucht habe, obwohl ich wusste, dass dein Vater schon seit so vielen Jahren tot ist. Einen Moment lang habe ich beinahe geglaubt, man könnte die Toten zurückholen, wenn man sich nur leidenschaftlich genug nach ihnen sehnt. Meine tiefsten Überzeugungen sind mit einem Schlag in Irrationalität und Aberglauben aufgegangen. Ich finde das erschreckend und möchte nichts damit zu tun haben.«
    Als sie ihn blass werden sah, war sie beinahe

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