An einem Tag im Winter
fortzuschreiten.
Seine Stimmung war während der Fahrt umgeschlagen, und als er auf dem Bahnhof in Oban ihren Koffer zum Bahnsteig trug, fragte er ärgerlich, warum sie so ein Theater machen müsse. Was sollte seine Mutter von dieser kopflosen Abreise ohne ein Wort des Abschieds denken?
Sie wird denken, dass sie gesiegt hat, dachte sie trübsinnig.
Sie ging, weil sie wusste, dass nichts sich ändern würde. Dieser Vormittag wäre genau so verlaufen wie alle anderen Vormittage in Kilmory House, nach den alten Mustern, die von den Gesprächen der vorangegangenen zwölf Stunden völlig unberührt geblieben wären. Hatte sie zu viel von ihm verlangt? Nein, sie glaubte es nicht, aber sie ahnte schon, dass der Moment des Zweifels kommen würde wie die Dunkelheit in einem Tunnel.
Sie lieà den Tee stehen und ging zu ihrem Zug. Der rote Sandsteinbau schien so trostlos wie alle Bahnhöfe, wenn man allein und unglücklich war, und sie hätte in diesem Moment beinahe geglaubt, was Alecs Mutter behauptete: dass all die Abschiede, die hier im Lauf der Jahre stattgefunden hatten, ihren Nachhall hinterlassen hatten. Während sie wartend auf dem Bahnsteig stand, flog ihr Blick immer wieder zur Sperre. Aber er kam nicht.
In einer Wolke von Dampf und Ruà lief endlich der Zug ein. Drinnen ging sie durch den Korridor, bis sie ein leeres Abteil fand. Auf dem Sitz lag eine billige Klatschzeitschrift; sie blätterte darin, während sich der Zug stampfend in Bewegung setzte. Ellen konnte es kaum erwarten, wieder in London zu sein. Sie konnte es kaum erwarten, wieder in ihrem Labor zu stehen und an einem Versuch zu arbeiten, Geist und Hände beschäftigt mit den kniffligen Aufgaben, von denen sie wusste, dass sie sie beherrschte. Sie brauchte die Sicherheit des Messbaren.
Sie blätterte um und hatte unversehens ein Bild von Marcus Pharoah und einer jungen Frau vor sich. Der Untertitel lautete: Dr. Pharoah, Star der Fernsehquizshow Tier, Pflanze, Mineral, und seine Begleiterin, Miss India Mayhew . Im ersten Moment war sie wie vor den Kopf geschlagen. Das musste eine andere India Mayhew sein â aber nein, der Name war zu ungewöhnlich, und auÃerdem, das war eindeutig India, klar zu erkennen an dem hellen Haar und der für sie typischen Art, im Stehen eine Hüfte vorzuschieben und den Kopf leicht zurückzuwerfen. Sie selbst, erinnerte sich Ellen, hatte India vor einem Jahr in der Royal Institution mit Pharoah bekannt gemacht. Das ist Miss Mayhew , hatte sie Pharoah ihre Freundin auf dessen Bitte hin vorgestellt. Als sie sich jetzt ausmalte, welchen Verlauf die Dinge nach diesem Moment genommen haben mussten, fühlte sie sich von India auf gemeinste Art und Weise hintergangen.
Ellen legte die Zeitschrift weg und schaute zum Fenster hinaus. Sie dachte an Alec und wie sie auseinandergegangen waren, während sie, die Stirn an das kalte Glas gedrückt, zu den vorübergleitenden Häusern der Stadt hinausblickte.
10
NIEMAND ÃFFNETE, ALS ELLEN A M NÃCHSTEN TAG bei den Mayhews klingelte. Niemand meldete sich, als sie am Tag darauf und dann noch einmal am folgenden Tag anrief. Keine India, die, eine Schürze über ihr Kleid gebunden, in der einen Hand die Zigarette hielt und in der anderen einen Holzlöffel, mit dem sie in den Töpfen auf dem Herd rührte.
Das Gefühl, hintergangen worden zu sein, das sie beim Anblick des Fotos von India und Pharoah so stark empfunden hatte, geriet ins Wanken. Sie wusste, dass sie in der Zeit mit Alec den Kontakt zu India verloren hatte. Sie war so von ihm besetzt gewesen, dass India einfach von der Liste gerutscht war. Darauf war sie nicht stolz.
Aber wo war India? Wohin war sie verschwunden? War sie bei Pharoah? Obwohl sie nach der Trennung von Alec so unter Schock stand, dass sie kaum etwas anderes berührte, machte ihr diese Frage zu schaffen. Pharoah mit seinem Geld und seinem Nimbus würde India natürlich gelockt haben. Und Pharoah würde sie benutzen, wie er Andrée Fournier benutzt hatte, und sich ihrer entledigen, sobald er genug von ihr hatte.
Am Dienstag nach ihrer Rückkehr rief Alec an. Als sie seine Stimme hörte, sein Flehen, zu ihm zurückzukommen, wurde sie weich. Sie verabredete sich für den folgenden Abend zum Essen mit ihm. Erst als sie ihn wiedersah, konnte sie die Leere ermessen, mit der sie in den letzten Tagen gelebt hatte. Es war, als wäre sie ausgehöhlt, als
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