An einem Tag im Winter
Kind so sehr gewünscht.«
»Ein Kind?«, fragte India.
Hester Devereux blickte auf. »Ja. Rosanne Pharoah ist im Kindbett gestorben. Wussten Sie das nicht?«
India dachte daran, wie sie in Marcusâ Wohnung auf dem Sofa gesessen und er ihr von Rosanne erzählt hatte. Sie wusste genau, dass er gesagt hatte, seine erste Frau sei an einer Infektion gestorben. Damals gab es noch kein Penicillin , hatte er gesagt. Sie erinnerte sich, dass sie seine Hand gestreichelt hatte.
Sie schüttelte den Kopf. Hester Devereux sah erschrocken aus. »Ach, entschuldigen Sie, das tut mir wirklich leid ⦠Wie taktlos von mir. Ich hatte einfach angenommen ⦠Das waren andere Zeiten damals, und die beiden haben so abgeschieden gelebt. Hier, in Midhurst, gibt es bestimmt ausgezeichnete Ãrzte.«
»Ja, ja«, sagte India. »Und das Kind?«
»Das ist es ja gerade. Deswegen bin ich hergekommen. Ich habe nie etwas über das Kind erfahren. Seit Henrys Tod bedrückt mich das. Ich weià nicht, warum gerade jetzt, aber in solchen Zeiten fängt man vielleicht an, über all die ungeklärten Dinge nachzudenken.«
Sie stellte ihren Kuchenteller weg und wandte sich India zu. Sie sah traurig aus und verwirrt. »Ich habe nie gehört, was aus Rosannes Kind geworden ist. Marcus war nach England zurückgekehrt, als ich von ihrem Tod erfahren habe, aber von einem Kind war nicht die Rede. Ich habe dann an eine alte Freundin von der Universität geschrieben, aber die wusste auch nichts. Ich dachte, Sie würden mir vielleicht etwas sagen können, Mrs. Pharoah, aber ich sehe schon, ich habe mich geirrt.«
Hester Devereuxâ Stimme hatte einen beschwichtigenden Ton angenommen, doch die Verwirrung in ihrem Blick blieb. Wenig später stand sie auf, um zu gehen. An der Tür sah sie India an. »Niemand schien zu wissen, was mit diesem Kind passiert war. Ist das nicht furchtbar? Niemand hatte anscheinend auch nur die geringste Ahnung.«
Das Gespräch hatte sie ermüdet, und India legte sich aufs Sofa und schlief ein. Als Marcus nach Hause kam, setzte er sich auf die Armlehne des Sofas und streichelte ihr Haar.
»Erzähl mir von Rosanne«, bat sie.
»Warum?«
»War sie so hübsch wie ich?«
»Ja«, antwortete er kurz.
»Wo habt ihr gelebt?«
»Im Norden. Hoch oben im Norden.« Er blickte zu ihr hinunter. »Warum interessiert dich das?«
»Ich hatte Besuch. Von einer Hester Devereux. Sie sagte, sie sei eine Freundin deiner ersten Frau gewesen.«
Seine Hand erstarrte. »Hester â¦Â«
Er stand auf und schaute zum Fenster hinaus auf die Veranda, wo Gosse Farbeimer und Pinsel einpackte. »Sie war eine ziemlich erbärmliche Person, soweit ich mich erinnere. Eine Wichtigtuerin. Ich habe sie schlieÃlich vor die Tür gesetzt. Du hast hoffentlich das Gleiche getan, India.«
»Sie hat mir erzählt, dass Rosanne im Kindbett gestorben ist.«
»Ach, ja?« Er drehte sich langsam zu ihr um.
»Stimmt das?«
»Ja.«
»Das hast du mir aber nicht gesagt.«
»Das ging dich auch nichts an.«
»Was ist mit dem Kind?«
»Lass es, India.«
Sie setzte sich auf. »Ist es gestorben?«
Die Abendsonne blitzte golden auf dem See und brachte die fernen Berge zum Leuchten.
»Es war eine Totgeburt«, sagte er. Der Zorn in seiner Stimme stand in Widerspruch zum leidvollen Ausdruck seiner Augen. »Bist du jetzt zufrieden? Ich wollte dich nicht mit Gerede über solche Dinge beunruhigen.«
In der Nacht, als sie Abigail die Flasche gab, bedrängten sie Erinnerungen an das Gespräch mit Hester Devereux.
Rosanne Pharoah ⦠bildhübsch ⦠erst achtzehn.
Niemand schien zu wissen, was mit dem Kind passiert war. Ist das nicht furchtbar?
Warum hatte er sie belogen? Denn er hatte gelogen, damals, vor zwei Jahren, in seiner Wohnung in Belsize Park. Er hatte ihr erzählt, Rosanne sei an einer Infektion gestorben, während sie in Wirklichkeit bei der Entbindung von einem tot geborenen Kind gestorben war. Na ja, sie konnte auch nach der Entbindung an einer Infektion gestorben sein, dachte India. Sie hatte ja auch eine Infektion gehabt, die sie stark geschwächt hatte. Damals gab es noch kein Penicillin . Vielleicht war die Totgeburt die Folge einer Infektion gewesen. Aber warum wollte er dann nicht offen darüber sprechen? Weil es ihm unerträglich war? Oder aus
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