An einem Tag im Winter
einem anderen Grund?
Hester Devereuxâ Besuch hatte die Wochen schläfriger Orientierungslosigkeit nach Abigails Geburt zu einem jähen Ende gebracht. India nahm die Schlaftabletten, die Dr. Fisher ihr verschrieben hatte, und spülte sie in der Toilette hinunter. In den Tagen danach war ihr, als stiege sie aus einem tiefen Sumpf an klares Licht empor.
Nachts träumte sie von Babys. Manchmal war das Baby Abigail, und manchmal war es das unbekannte Kind von Rosanne Pharoah. In ihren Träumen entdeckte sie Rosannes Baby unter Betten, in Kisten, unter der Eisdecke des Sees von Fairlight treibend. Immer lebend, wenn auch bleich und wächsern und stumm, die Finger sachte schwankend wie Seetang, der Mund zuckend, als wollte das Kind sprechen.
Marcus war im College, und Gosse hatte den Pick-up in die Werkstatt in Midhurst gebracht. Sie war allein im Haus.
Sie öffnete die Tür zu Marcusâ Arbeitszimmer, das mit einem Schreibtisch, Aktenschränken und Bücherregalen ausgestattet war, an den Wänden hingen Drucke und Fotografien. Sie sah die Fächer über dem Schreibtisch durch, wo Marcus Rowenas Briefe aufbewahrte, dann zog sie die Schubladen auf. Sie wusste selbst nicht, was genau sie suchte â einen Brief vielleicht, ein Tagebuch, eine Geburts- oder Sterbeurkunde. Als sie auf der StraÃe ein Auto hörte, fuhr sie zusammen und rannte zum Fenster. Aber es war nur ein Lastwagen, der Baumstämme geladen hatte, und sie nahm ihre Suche wieder auf.
Ein kleiner Pappkarton enthielt einen Stapel Fotografien. India knallte sie eine nach der anderen auf die Schreibtischplatte wie Spielkarten. Da war ein Bild von Marcus im Talar, dann folgten mehrere von Rowena, im Tanzkleid, in Schuluniform, hoch zu Ross im Reitkostüm. Sie fand eine Aufnahme von irgendeinem alten Gemäuer mit einem Turm auf der Seite, der richtige Zinnen hatte, aber kein Bild von einer hübschen, blonden jungen Frau. Kein Bild von einem Baby. So viele Jahre, dachte sie, als sie die Fotos in die Schachtel zurücklegte, Jahre, bevor sie ihm begegnet war, Jahre, von denen sie nichts wusste. Sie kannte ihn im Grunde kaum.
Als sie ein Bündel Dokumente in einer Akte durchblätterte, fiel ihr eins davon auf, hellbraun wie milchiger Tee, brüchig, mit rissigen Rändern. Beide Blätter trugen denselben Briefkopf: Kinderheim Charnwood, bei Winchester, Hampshire. Sie waren vom 18. Juni 1942 datiert. Bei der Durchsicht stellte sie fest, dass die Angaben darauf in mehrere Abschnitte unterteilt waren: Gesundheitszustand, schulische Leistung, Verhalten, Charakter, Vorgeschichte. Oben auf dem einen Blatt stand Sebastians Name, auf dem anderen ihr eigener.
Sie konnte nicht glauben, dass Marcus in seinem Schreibtisch Berichte aufbewahrte, die das Waisenhaus über sie und Sebastian verfasst hatte, als sie nach dem Tod ihrer Mutter nach Charnwood gekommen waren, und es dauerte einen Moment, ehe sie sich imstande fühlte, sie zu lesen.
Etwas in ihr verschloss sich, während sie las. Ihr Gesundheitszustand war als zufriedenstellend beurteilt worden, auch wenn sie nach Meinung des Arztes schlecht genährt und untergewichtig waren. Ihre schulischen Leistungen wurden als durchschnittlich bewertet, von Sebastian hieà es, er sei in der geistigen Entwicklung zurückgeblieben. In dem »Charakter« betitelten Abschnitt hatte jemand geschrieben: »India neigt zu heftigen Temperamentsausbrüchen und scheint nur eine unklare Vorstellung von Recht und Unrecht zu haben.« In derselben Schrift stand weiter unten: »Die Kinder sind von der Mutter vernachlässigt worden, aber mit angemessener Fürsorge sollten sie sich dennoch zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln können.«
India hörte das Brummen eines Autos. Eilig schob sie die Dokumente wieder in die Akte und die Akte in die Schublade, bevor sie zum Fenster lief. DrauÃen bog der Pick-up gerade von der StraÃe in die Einfahrt ab. Nach einem letzten prüfenden Blick durch das Zimmer ging sie hinaus.
Aber sie war offenbar nicht achtsam genug gewesen, denn am Abend beim Essen sagte Marcus zu ihr: »Na, hast du etwas gefunden?«
Sie sah ihn nur groà an, obwohl sie die Spannung kaum ertrug.
»Ich wollte schon Mrs. Williams entlassen«, fuhr er fort, während er ein Stück von seinem Steak abschnitt, »aber dann wurde mir klar, dass nur du das gewesen sein kannst, India. Wenn du schon hinter meinem
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