An einem Tag im Winter
sie nicht verstand. In Gildersleve Hall brodelte es unter der Oberfläche von internen Streitigkeiten, alten Feindschaften und Rivalitäten, und während sie durchs Busfenster dem Wirbel der Schneeflocken im gelben Licht der StraÃenlampen zusah, hatte sie das Gefühl, jetzt noch weniger dazuzugehören als an ihrem ersten Arbeitstag.
Am Montagmorgen lag dünner Schnee auf dem Dach von Gildersleve Hall und den Zinnen des Turms. Als Ellen die Einfahrt entlangradelte, hörte sie die Schläge der Axt, mit der Gosse Holz spaltete.
Ein roter Schimmer zog ihren Blick zum Wäldchen. Sie sah Alec Hunter und Andrée Fournier unter den Bäumen stehen und miteinander reden. Andrée, in ihrem grauen Mantel mit dem roten Schal, gestikulierte heftig, während sie immer wieder den Mund öffnete und schloss. Ellen hatte den Eindruck, dass sie schluchzte. Es gab ihr einen kleinen Stich, als sie sah, dass Alecs Hand auf Andrées Arm lag.
Im Haus strömte die Kälte die Kamine hinunter und sprang in alle Ecken und Winkel. Toby hatte sich krankgemeldet; die Hälfte der Mitarbeiter schien erkältet zu sein oder Grippe zu haben. Andrée kam mit geröteten Augen und blassem Gesicht in die Kammer, als Ellen gerade ihren Mantel auszog. Sie habe wahnsinnige Kopfschmerzen, sie fühle sich krank, sagte sie. Sie werde nach Hause gehen und sich ins Bett legen.
Den ganzen Vormittag über war Ellen mit Messungen der Intensitäten der Rasterpunkte auf Röntgendiffraktionsaufnahmen und mit den komplexen Berechnungen beschäftigt, die es Dr. Kaminski erlauben würden, die Aufnahmen zu interpretieren. Auf den Fensterscheiben glänzten Eisblumen, und sie machte immer wieder Pausen, um sich die Hände warm zu reiben.
Ohne Toby und Andrée herrschte im obersten Stockwerk des Hauses eine tiefe Stille, einzig durchbrochen vom fernen Widerhall von Dr. Redmonds markerschütterndem Niesen in seiner Turmklause.
An diesem Nachmittag hörte sie ihn und Marcus Pharoah erneut streiten. In den zornig erhobenen Stimmen schien ihr eine Gewalt mitzuschwingen wie in den dröhnenden Schlägen von Roy Gosses Axt. Sie ging in den Korridor hinaus. Die Tür zum Turm war nur angelehnt. Sie stieà sie weiter auf.
»Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?« Das war Dr. Redmonds Stimme.
»Dich in Ruhe lassen?« Marcus Pharoah. »Damit du hier oben wie eine gottverdammte Spinne auf der Lauer liegen und dein Gift verspritzen kannst? Nein, mein Lieber, damit ist jetzt Schluss.«
»Ich sorge dafür, dass alle die Wahrheit über dich erfahren. Ich werde alles ans Licht bringen.« Dr. Redmonds Stimme war schrill geworden. »Ich könnte dich vernichten. Ich habe die Beweise, und ich werde sie benutzen, verlass dich drauf.«
Ellen huschte in ihr Labor zurück und schloss leise die Tür. Die Luft schien zu vibrieren. Als sie sich wieder über ihr Mikroskop beugte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, und sie musste ein paarmal zwinkern, ehe sie das Gitter des Kristalls wieder scharf in den Blick bekam.
In dieser Nacht schneite es wieder. Am nächsten Morgen musste sie im Kampf mit dem feuchten Schnee ihr Fahrrad über eine weite Strecke schieben. Tiefe Stille lag über der Landschaft, nichts regte sich.
Im Labor ertappte sie sich immer wieder dabei, dass sie nach Geräuschen aus dem Turm horchte. Kein Niesen, keine Schritte. Nach Wochen sorgfältiger Arbeit waren ihre Kristalle zu einer ungeordneten Masse zusammengeklumpt, völlig unbrauchbar zu weiterer Verwendung. Sie kippte das Desaster ins Spülbecken und fing von vorn an. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren, war mit ihren Gedanken überall, nur nicht bei ihrer Arbeit.
In der Mittagspause ging sie in den Turm. Die Tür zu Dr. Redmonds Labor war geschlossen. Sie klopfte, dann trat sie ein. Das Zimmer war leer. Merkwürdig, dachte sie, dass man es ohne greifbaren Anhaltspunkt förmlich riechen konnte, wenn ein Raum den ganzen Tag nicht benutzt worden war.
Sie hatte eigentlich vorgehabt, an diesem Abend länger zu arbeiten, aber sie war müde, und als sie gegen sechs merkte, dass die Zahlen vor ihren Augen zu verschwimmen begannen, packte sie ihre Sachen zusammen und zog sich an. Im Schuppen legte sie ihre Aktenmappe und ihre Handtasche in den Fahrradkorb. Nur mit Portemonnaie und Taschenlampe machte sie sich auf den Weg über die Felder.
Von Gildersleve Hall zum Peddarâs
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