An und für dich
als wäre in ihm nicht genug Platz für das viele Blut, das ihm durch die Adern jagte. »Denkst du das wirklich? Denkst du, ich wollte suspendiert werden?«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Du tust einem kleinen Jungen weh. Du nimmst uns mal eben so neunzig Prozent unseres Einkommens. Und deine Reaktion ist, dich zu betrinken.«
Conor stand auf.
»Nein«, sagte er, »das ist nicht meine Reaktion.«
Er ging die Treppe hinauf. Über das aufgeregte Pochen ihres eigenen Herzens hinweg hörte Jess, wie Schubladen aufgezogen und Schranktüren geöffnet und zugeschlagen wurden. Dann hörte sie wieder seine Schritte auf der Treppe. Er stand mit einem Koffer in der Hand und einem Rucksack über der Schulter in der Küchentür. Er wohnte ja sowieso schon mehr oder weniger bei Greg. Dann konnte er dort auch gleich richtig einziehen.
»Das hier ist meine Reaktion«, sagte er.
24
Es war der perfekte Abend für eine Ballonfahrt. Joe sollte für eine Joghurtmarke namens Shanti eine Runde in einem Ballon drehen, der die Form eines Joghurtbechers hatte. Saffy hatte ihm beim Ausladen geholfen, und Meatloaf und Ruth breiteten den Ballon auf der Wiese aus. Wie immer stritten sie sich dabei.
»John Travolta zum Beispiel«, sagte Ruth gerade. »Der ist reich. Talentiert. Und in seiner Auffahrt parkt eine 747.«
»Der braucht doch gar keine Auffahrt.« Meatloaf schloss die Gasflaschen an. »Auf seinem Kinn könnte ja ein Airbus landen.« Ruth lachte. »Hast du dich schon mal im Spiegel gesehen?«
Wahrscheinlich nicht, dachte Saffy angesichts des uralten DefLeppard-Shirts und der ausgebeulten Khaki-Shorts, die Meatloafs dicke, aber seltsamerweise komplett haarlose Waden präsentierten.
»Ich meine, du bist doch fünfunddreißig, oder?« Ruth kniete sich hin. »Du hast schon dein halbes Leben hinter dir. Und was hast du erreicht?«
Meatloaf sah sie erschrocken an. »Oh mein Gott! Willst du damit sagen, dass ich höchstens siebzig werde?«
»Schon klar, bloß schnell das Thema wechseln.« Ruth grinste.
»Ich war 2003 Vierter bei der Irlandmeisterschaft im Luftgitarrespielen.« Meatloaf schob die Unterlippe in einer typischen Rock-’n’-Roll-Grimasse vor, ging in die Knie und fing an, auf einem unsichtbaren Instrument zu spielen.
»Nicht schlecht«, lachte Saffy.
»Da siehst du alt aus, Michael ›The Destroyer‹ Hoeffels.« Meatloaf warf den Kopf in den Nacken und grölte. »Und dich steck ich auch in die Tasche, Elvis ›Fender-Bender‹ Virgo!«
Ruth schüttelte den Kopf. »Du verschwendest hier deine Zeit damit, Saffy zu beeindrucken«, sagte sie, »dabei solltest du lieber versuchen, mich zu beeindrucken. Sie ist doch längst vergeben.« Saffy und Liam sollten zusammen mit der Rückholmannschaft hinter dem Ballon herfahren, und sie hatte überhaupt keine Lust darauf. Er stand ein paar Schritte entfernt mit dem Rücken zu ihr, den Kopf über seinen Gameboy gebeugt, und ignorierte geflissentlich sämtliche ihrer Versuche, mit ihm ins Gespräch zu kommen.
»Wow! Spielst du gerade Pokémon?«
Schweigen.
»Hey! Hast du schon mal Nanosaur gespielt? Hab ich auf meinem Laptop. Wenn du möchtest, kannst du es auf dem Nachhauseweg mal ausprobieren.«
Nichts.
Sie versuchte alles, damit er sie mochte, aber je mehr Mühe sie sich gab, desto weniger reagierte er. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit ihr geredet oder sie auch nur angesehen hatte.
Saffy seufzte und konzentrierte sich stattdessen auf die Dinge, für die sie dankbar war. White Feather lief im Moment gut. Marsh war nicht mehr sauer, und das Beste war, dass ihre Mutter bereits die Hälfte ihrer Chemobehandlungen hinter sich hatte. Sie hatte mittlerweile fast alle Haare verloren und so gut wie keinen Appetit mehr. Sie sah zehn Jahre älter aus, als sie war, und zwanzig Jahre älter als vor der Brustamputation. Aber Mr. Kenny hatte gesagt, das war zu erwarten gewesen. Seine Arzthelferin hatte Saffy mehrere Päckchen hochkalorische Trinknahrung mitgegeben, von denen eine Portion etwa so groß war wie ein Eierbecher und fünfhundert Kalorien hatte, und Jill behielt sie tatsächlich bei sich. Sie schaffte es nur noch zu duschen und sich anzuziehen und lag dann den ganzen Tag im Bademantel und mit einem Kopftuch auf der Couch. Für alles andere war sie zu schwach. Saffy war noch einmal in das Geschäft gegangen und hatte die Perücke »Crystal« gekauft. Sie lag in einem Karton unter der Treppe, weil sie es nicht übers Herz brachte, ihre
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