An und für dich
euch verlasse, würde ich weder sie noch dich jemals wiedersehen. Ich dachte, sie würde ihre Meinung vielleicht irgendwann ändern, aber ich habe nie wieder von ihr gehört, nur von ihrem Anwalt. Ich wollte gern mit ihr in Kontakt bleiben, aber mir war klar, was ich angerichtet hatte, deshalb habe ich sie in Ruhe gelassen. Es tut mir leid, wenn sich dieser Brief jetzt wie eine Aufzählung von Ausreden anhört; ich weiß, es gibt keine Entschuldigung dafür, seine Familie zu verlassen.
Was ich dir unbedingt sagen wollte: Was ich nicht wusste, als ich damals gegangen bin, war, wie sehr ich diesen Schritt bereuen würde. Es vergeht kein Tag, an dem ich dich nicht vermisse, Sadbh. Du bist das Erste, woran ich beim Aufwachen denke, und das Letzte abends vor dem Einschlafen.
Alles Lieb e
Da d
Saffy hatte das Päckchen bis zum Schluss aufgehoben. Jemand hatte es bereits geöffnet und die Fotos, die mit einem Gummiband zusammengehalten wurden, wieder hineingeschoben.
Es war etwa ein halbes Dutzend Fotos von ihrem Vater. Sein ganzes Leben im Schnelldurchlauf. Hier hatte er noch braune Haare, stand mit einer Zigarette in der Hand neben einem Löwen. Auf dem nächsten waren seine Haare schon grau, und er trug einen Bart und prostete auf einer Party mit einem Glas Rotwein der Kamera zu. Auf einem anderen war er schon kahl und sein Gesicht sah eingefallen aus; er stand in einem sonnigen Garten und stützte sich auf einen Krückstock.
Dann gab es eine Reihe Schwarz-Weiß-Aufnahmen eines dunkelhaarigen, etwa zwei Jahre alten Mädchens. Jedes Bild fing gekonnt einen anderen Gesichtsausdruck von ihr ein: Sie sah ernsthaft aus, überrascht, sie lachte, sie sah unverstellt und vertrauensvoll in die Kamera. Vielleicht hatte sie es mittlerweile vergessen, aber Saffy hatte ihren Vater einmal geliebt. Das wurde aus ihrem Blick sehr deutlich.
Noch etwas war in dem Päckchen, eine letzte Karte mit einem Bild von einem Regenbogen über einem See.
30.08.2005
91 Wilbur Roa d
Swanse a
SA1 9R E
Liebe Sadbh,
ich bin ein alter Freund Ihres Vaters. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass er am 27. August 2005 nach einem schweren Schlaganfall verstorben ist. Ich habe seine Wohnung ausgeräumt un d dabei diese Fotos gefunden. Nachdem ich Ihrem Vater geholfe n hatte, seinen letzten Brief an Sie zu schreiben, bin ich mir sicher , dass er gewollt hätte, dass ich Ihnen die Bilder schicke .
Mit herzlicher Anteilnahm e
Frank Fieldin g
Joe öffnete strahlend die Tür. »Ich versuche schon den ganzen Nachmittag, dich zu erreichen! Liam schläft heute bei einem Freund, wir haben sturmfreie Bude.« Er sah ihr Gesicht. »Saffy! Was ist denn los?«
»Mein Vater ist gestorben.« Sie lehnte sich an den rauen Putz der Hauswand, biss sich auf die Faust und versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
»Heute?« »Vor fast drei Jahren.«
Joe zog sie ins Haus, nahm sie auf den Arm und trug sie die enge Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Er legte sich neben sie und zog die Decke über sie beide. Nach einer Weile ging er hinunter und holte die Karten und Briefe aus ihrem Auto. Er breitete sie auf der Decke aus, und Saffy las sie alle noch einmal. Und noch einmal.
»Das ist doch nicht zu fassen.« Joe hatte ihr ein Tablett mit Tee und Toast heraufgebracht. Es war fast Mitternacht, und Saffy hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. »Dass dein Dad die ganze Zeit versucht hat, mit dir in Kontakt zu bleiben.«
»Es ist so traurig «, sagte Saffy. »Es ist so traurig, dass er bis zu seinem Tod gedacht hat, ich will ihn nicht sehen.«
»Du musst deine Mutter anrufen. Du musst sie fragen, warum sie dir nie gesagt hat, dass er dich sehen will.«
Saffy schüttelte den Kopf. Ihre Mutter hatte ihren Vater umgebracht – vielleicht nicht mit einem Messer oder einer Pistole, aber mit einer Lüge. Einer langen, komplizierten Lüge, die sie ihr so überzeugend erzählt hatte, und so oft, dass Saffy nie daran gezweifelt hatte.
Dein Vater weiß, wo wir sind, Saffy. Wenn er uns sehen wollte, würde er es tun .
Wie konnte sie nur? Wie hatte sie einem Kind gegenüber so grausam sein können?
»Es gibt bestimmt einen Grund, warum sie dir das verheimlicht hat.«
Falls es einen Grund dafür gab, wollte Saffy ihn nicht hören. Es war zu spät für Erklärungen. Nichts, was ihre Mutter sagen konnte, würde wiedergutmachen, was sie ihr angetan hatte.
»Soll ich dich zu ihr fahren?«
»Ich will sie nicht sehen, Joe. Ich will da nicht hin. Bitte, zwing mich nicht
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