An und für dich
waren nur zwei Briefe dabei. Der eine, den sie schon gelesen hatte, und ein zweiter, längerer. Vorsichtig faltete sie ihn auseinander.
1. Januar 1992
Liebe Sadbh,
ich trage diesen Brief schon seit Jahren im Kopf mit mir herum, und trotzdem macht es das jetzt nicht leichter. Mein Papierkorb quillt schon über, so oft habe ich angefangen, das hier zu schreiben. Aber diesen Versuch werde ich am Ende abschicken, egal, wie er wird. Nachdem ich aus Dublin weggezogen bin, galt die Vereinbarung, dass ich deiner Mutter bis zu deinem 18. Geburtstag regelmäßig den Unterhalt überweise, und dass sie Geburtstags- und Weihnachtskarten von mir an dich weiterleitet. Ihr Rechtsanwalt hatte mich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich nicht mehr schreiben dürfte, als auf eine Postkarte passt. Möglicherweise bekommst du diesen Brief also überhaupt nicht.
Da meine erste Zahlung nach deinem 18. Geburtstag im November wieder auf meinem Konto eingegangen ist, weiß ich, dass deine Mutter mir immer noch böse ist. Ich würde mich gern an den Kosten beteiligen, falls du studieren oder auch erst einmal ein Jahr Auszeit nehmen willst. Aber ich will mich nicht aufdrängen; falls du jemals etwas brauchst, sag einfach Bescheid (ohne jede Verpflichtung).
Ich weiß nicht, was Jill dir über mich erzählt hat, oder darüber, warum ich euch verlassen habe. Aber ich weiß, dass es etwas gibt, was sie dir auf keinen Fall erzählt hat, weil ich es, um ehrlich zu sein, damals selbst nicht wusste.
Ich gehe davon aus, du weißt, dass ich verheiratet war, als ich sie kennengelernt habe, und dass meine Frau eine Freundin ihrer Mutter war. Wahrscheinlich auch, dass wir dreiundzwanzig Jahre auseinander sind. Das spricht alles nicht gerade für mich, aber ich kann nur sagen, es gibt für jeden Topf den richtigen Deckel, und wenn man diesen Menschen findet, kann man nicht dagegen an. Jill war dieser Mensch für mich. Ich habe deine Mutter geliebt. Ich liebe sie immer noch.
Als sie erfahren hat, dass sie schwanger war, wollte sie mit mir durchbrennen, aber ich habe dafür gesorgt, dass sie es ihren Eltern erzählt. Ich wollte nicht, dass sie ihre Familie verliert, aber genau das ist am Ende passiert. Hat sie dir erzählt, dass ihre Eltern Siebenten-Tags-Adventisten waren? Ich kenne mich da nicht so gut aus, aber ich weiß, dass die noch schlimmer drauf sind als Katholiken. Kein Alkohol, keine Musik, und Mädchen müssen jungfräulich in die Ehe gehen. Eine Achtzehnjährige, die ein Kind von einem verheirateten Mann erwartet, war für sie der Weltuntergang. Sie haben sie rausgeschmissen. Ich glaube, sie haben das auch nie verwunden. Jill hatte noch einen Bruder, Tony, aber den habe ich aus den Augen verloren. Ich glaube, er ist nach Neuseeland gezogen.
Ich war mit deiner Mutter bei einer Beratungsstelle, wo sie uns was über Abtreibungen erzählt haben, aber das hätten wir beide nicht gekonnt. Also sind wir abgehauen. Wir wollten so weit wie möglich weg, sind aber nur bis Dublin gekommen. Ich hatte dort mal ein paar Monate gearbeitet, bevor ich nach England gezogen bin, deshalb kannte ich mich ein wenig aus. Ich hatte Marie das Haus überlassen, und deine Mutter und ich besaßen überhaupt nichts, aber wir waren glücklich. Ich dachte, noch glücklicher geht nicht, aber dann kamst du auf die Welt, und mir wurde klar, dass ich mich geirrt hatte. Du warst ein wunderschönes Baby, Sadbh, und du hast meiner Mutter wahnsinnig ähnlich gesehen. Sie ist gestorben, als ich fünfzehn war. Deshalb haben wir dich nach ihr benannt.
Nicht nur der Tag, an dem du das erste Mal gelaufen bist (der 23. Januar 1975!) oder als du im Alter von sieben Monaten dein erstes Wort gesagt hast (»kitzeln«), nein, jeder einzelne Tag mit dir war wie ein Wunder. Du hast immer im Kinderwagen vor unserem Küchenfenster in Ranelagh gelegen und vor dich hin gelacht. Wenn wir morgens aufgewacht sind, haben wir dich schon in deinem Bettchen singen hören.
Dann, als du fast zwei Jahre alt warst, wurde bei Marie multiple Sklerose festgestellt. Die Krankheit war schon ziemlich weit fortgeschritten, als die Diagnose kam. Ihre Eltern lebten nicht mehr, und ihre Schwester hat fünf Kinder. Sie hatte niemanden, der sich um sie kümmern konnte, und hätte in ein Heim gemusst. Wir waren neunzehn Jahre lang miteinander verheiratet gewesen. Ich wollte nicht zu ihr zurück, aber ich musste.
Jill hat das nicht verstanden, und ich mache ihr deswegen keine Vorwürfe. Sie hat gesagt, wenn ich
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