Ana Veloso
Eindruck haben, dass an der Geschichte etwas Wahres sein sollte, würde ihr
Vater eingreifen müssen. Im schlimmsten Fall musste Seu Franco entlassen
werden, worüber Vitória nicht besonders unglücklich wäre. Der Mann war
unausstehlich. Anschließend wollte sie nach ihrer Stute sehen, die mit einem
entzündeten Huf im Stall stand und die gemeinsamen Ausritte ebenso zu vermissen
schien wie Vitória.
Nach ihrer Mittagsruhe – und auf die würde sie
keineswegs verzichten, denn der Abend versprach lang zu werden – hatte sie
einiges am Schreibtisch zu erledigen. Sie musste diverse Rechnungen und
Lieferantenlisten überprüfen, eine Aufgabe, die ihr Vater ihr übertragen hatte,
als er ihr frappierendes Zahlenverständnis entdeckte. Außerdem würde sie es
sich nicht nehmen lassen, die Zeitung zu lesen, in der sie mit Spannung die
Kurse für Kaffee verfolgte, der seit kurzem an der Börse von Rio de Janeiro
gehandelt wurde.
Aber zuallererst, bevor die Hitze unerträglich
wurde, wollte sie hinaus auf die Kaffeefelder. Vitória band sich eine grobe Schürze
um, setzte einen alten Strohhut auf, nahm ihren Korb und ein Messer und verließ
das Haus. Ihr Weg führte durch einen kleinen Kräutergarten, den sie neben dem
Herrenhaus angelegt hatte. Hinter dem Holzgatter, das von Sonne und Regen schon
ganz ausgebleicht und rissig war, wand sich ein schmaler Pfad hinaus zu den
Feldern. Den größten Teil ihres Landes nahmen die Kaffeepflanzungen in
Anspruch, doch auch Getreide, Mais, Gemüse und Früchte wurden hier angebaut.
Immerhin waren an die dreihundert Sklaven zu ernähren, des Weiteren rund fünfzig
Rinder, zwanzig Pferde, hundert Schweine und fast zweihundert Hühner. Als Vitória
nach dem kurzen Fußweg das erste Feld mit Kaffeepflanzen erreichte, standen ihr
Schweißperlen auf der Oberlippe. Die Sonne brannte bereits erbarmungslos von
dem wolkenlosen Himmel herab, dabei mochte es vielleicht gerade zehn Uhr sein.
Nicht der kleinste Windhauch ging. Im Laufe des Tages, schätzte Vitória, würde
das Thermometer sicher auf über fünfunddreißig Grad klettern. Und das noch vor
Frühlingsanfang! Sie musste sich beeilen, wenn sie nicht schweißgebadet zum
Haus zurückkehren wollte. Sie griff nach einem Strauch und schnitt behutsam ein
paar besonders schöne Zweige ab. Genauso verfuhr sie an drei weiteren Sträuchern,
bis ihr Korb gefüllt war. Dann rückte sie ihren Strohhut wieder gerade und trat
ihren Rückweg an. Wie erfrischend wäre jetzt ein Bad im Paraíba! Aber sofort
schob Vitória diese Idee wieder beiseite. Heute war sicher nicht der Tag, den
sie beim Plantschen im Fluss vertrödeln konnte. Außerdem führte der Paraíba
nach dem schweren Regen viel mehr Wasser als üblich. Der Fluss, der sich sonst
träge durch die Landschaft schlängelte, war zu einem reißenden und tückischen
Strom angeschwollen, in dem man besser nicht schwamm. Dabei wirkte er von
Weitem so harmlos, wie er in der Sonne schillerte und sich wie ein helles
Seidenband in das Grün der Hügel schmiegte. Er lag ungefähr fünfhundert Meter
entfernt von der Stelle, an der Vitória stand. Nur schemenhaft nahm sie das
Glitzern des Wassers wahr. Mit Vitórias Sehkraft stand es nicht zum Besten,
doch mit der Brille, die ihr ihr Vater von einer Reise nach Frankreich
mitgebracht hatte, konnte sie sich partout nicht anfreunden. Und die mächtigen
Bäume, die das Ufer säumten, und den Lehmweg, der am Fluss entlang nach
Vassouras führte, kannte sie gut genug, um sie auch so auszumachen. Aber
irgendetwas störte den vertrauten Anblick. Hatte sich da etwa ein Rind auf den
Weg verirrt? Vitória kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf den
dunklen Fleck. Er bewegte sich nicht. Ein Reiter? Doch nicht etwa der üble
Geselle, der vorhin an der Tür gewesen war? Schnell raffte Vitória ihren Rock
und lief zurück zum Haus. Als sie das Gatter zum Kräutergarten erreichte,
drehte sie sich noch einmal um. Der Fleck war verschwunden.
II
Für die comissionistas, die
Kaffee-Zwischenhändler, war der September eine Zeit, in der nicht allzu viel zu
tun war. Größere Lieferungen von den Fazendas im Süden Rio de Janeiros waren
erst wieder in einigen Monaten zu erwarten. Zwar konnten die cafeeiros, die
Kaffeesträucher, das ganze Jahr über Früchte tragen, doch am ertragreichsten
waren sie im Herbst. So fand die Haupternte üblicherweise im Mai statt, der
zugleich der trockenste Monat der Provinz war. War er es nicht, fiel wider
Erwarten und wider alle
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