Ana Veloso
doch mit uns nach Boavista, dann wirst du deine Meinung ändern.
Unsere Sklaven jedenfalls haben es deutlich besser als all die Freien, die auf
den Straßen Rios ihr erbärmliches Dasein fristen.«
Mittlerweile war Pedro ein bisschen bang zumute.
Seine Mutter schimpfte ihn ohnehin schon einen unverbesserlichen Liberalen,
aber wenn er nun einen Juden und einen Sklavereigegner mitbrachte, dann würde
sie ihn wahrscheinlich für einen Anarchisten halten und seinen Vater beknien,
ihn wieder zurück nach Boavista zu holen. Was für eine schreckliche
Vorstellung! Pedro verabscheute den eintönigen Alltag in der Provinz,
wenngleich er seine Familie, das Anwesen, die Ritte durch die Natur, das Bad im
Paraíba und die frische Luft vermisste. Aber was war das schon im Vergleich zu
der aufregenden, lauten, turbulenten, wilden Stadt? Im Vale do Paraíba war die
Gesellschaft strikt in zwei Klassen unterteilt: Fazendeiros und Sklaven. Einzig
in den kleineren Städten der Provinz, in Valença, Vassouras oder Conservatória,
fand man normale Bürger, deren Berufe sich aber vor allem an den Bedürfnissen
der Fazendeiros ausrichteten. Es gab Lehrer, Musiker, Ärzte, Krämer,
Handwerker, Schneider, Anwälte, Bankiers, Apotheker, Buchhändler und natürlich
Soldaten und Beamte des Kaisers. Das Leben floss gemächlich dahin, ohne große Höhen
und Tiefen. Es wurde bestimmt von den katholischen Feiertagen und von den
Jahreszeiten, und genau wie sie wiederholte es sich in zermürbender Regelmäßigkeit.
Alles war so vorhersehbar! Jeden April das Fest bei Teixeiras, jeden Mai die
Ernte, jeden Oktober die Totenmesse für seinen Großvater, den er nicht einmal
gekannt hatte, jeden Januar die Reise in die erfrischende Kühle der Berge von
Petrópolis.
Rio dagegen brodelte. Nie wusste man, was der nächste
Tag brachte. Jederzeit konnte man Menschen begegnen, die von faszinierenden
Abenteuern zu berichten wussten. Beinahe täglich lief ein Schiff aus
Nordamerika oder Europa ein, das neben erschöpften Matrosen immer auch
Hasardeure, Huren und wertvolle Handelsgüter mitbrachte. In Rio traf man auf
Missionare, die sich in die Urwälder des Nordens wagen wollten, auf englische
Adlige, die sich in der Neuen Welt vor ihren Gläubigern in Sicherheit brachten,
auf französische Intellektuelle, die hier einen fruchtbaren Boden für ihr
fortschrittliches Gedankengut sahen. Immer öfter erreichten auch Schiffe den
Hafen, die überquollen vor elenden Gestalten, russischen Juden, die vor
Pogromen flüchteten, und deutschen und italienischen Bauern, die mit ihren Großfamilien
und dem Mut der Verzweifelten im dünn besiedelten Süden des Landes ein neues
Leben beginnen wollten.
Sosehr Pedro mit den Ankömmlingen litt, um eines
beneidete er sie: den ersten Blick auf Rio de Janeiro. Die Kulisse, die
dramatischer kaum sein konnte, war schon von Reisenden früherer Zeiten immer
mit euphorischen Worten beschrieben worden. Die unzähligen Buchten, von weißen
Stränden gesäumt, beschrieben abenteuerliche Kurven. Ihre Spitzen schienen sich
am Horizont zu berühren, sodass sie auf den ersten Blick wie ein
undurchdringliches Labyrinth wirkten, wie ein riesiges Flussdelta, in dem sich
hunderte von Inseln befanden. Tatsächlich hatten die Portugiesen, als eine
Expedition unter Gaspar de Lemos in der fast kreisrunden Guanabara-Bucht
einlief, geglaubt, es handele sich um die Mündung eines Flusses – und weil man
den 1. Januar 1502 schrieb, tauften sie den Landeplatz »Rio de Janeiro«,
Januar-Fluss.
Die Granitfelsen, die sich mächtig über der Küste
emporhoben und bizarre Formen bildeten, wurden umrahmt von dichtem Urwald,
dessen sattes Grün sich zwischen Stränden und Bergen ausbreitete. Ein so
atemberaubendes Panorama wog die Strapazen der Reise allemal auf. Doch sobald
man Rio aus der Nähe kennen lernte, verlor man den Blick für die Großartigkeit
der Landschaft. Andere Eindrücke überwogen. Der Lärm, die schwüle Hitze, die Mücken,
der Unrat, der Gestank und das Gewimmel auf den Straßen ließen verklärte Blicke
auf die Berge oder das tosende Meer nicht mehr zu.
Jetzt war Pedro froh, diesem Moloch, in dem er
sich so mühelos zurechtfand, für eine Weile zu entkommen. Er stand am Bahnhof,
wo jeden Augenblick seine Freunde eintreffen mussten. Fasziniert beobachtete er
das geschäftige Treiben um sich herum. Der Zug, der täglich zwischen Vassouras
und Rio de Janeiro verkehrte, wurde mit allen luxuriösen Gütern beladen, welche
die reichen Fazendeiros
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