Ana Veloso
gelegen, war ein Schlösschen in neogotischem Stil
erbaut worden, das mit seinen Zinnen und Türmchen und Bogenfenstern und engen
Wendeltreppen alles besaß, was sich ein Brasilianer unter einem europäischen Märchenschloss
vorstellte. Dieses hellgrüne castelo war manchen der Inbegriff der
Eleganz und der Beweis dafür, dass Rio es auch architektonisch durchaus mit
Paris aufnehmen konnte – anderen erschien es als eine Ausgeburt des schlechten
Geschmacks.
Dazu gehörten auch Vitória und León. Sie hatten
die Bauarbeiten aus der Entfernung mitverfolgt und das verspielte Gebilde, das
allmählich auf der Insel entstand, für eine immense Verschwendung ihrer
Steuergelder gehalten. Doch jetzt, am Abend des 9. November 1889, mussten sie
trotz aller Kritik zugeben, dass es einen grandiosen Rahmen für einen Ball bot.
Das Schlösschen erstrahlte im Glanz von sechzigtausend Kerzen und zehntausend
venezianischen Lampen, und wer sich nicht von den festlich dekorierten Räumlichkeiten
beeindrucken ließ, der war von dem Blick auf den Zuckerhut, auf die Candelária-Kirche
sowie auf die Nachbarstadt Niterói auf der anderen Seite der Bucht verzaubert.
neunzig Köche und einhundertfünfzig Kellner kümmerten sich um das leibliche
Wohl der mehr als zweitausend Gäste, die kaum alle auf der Insel Platz fanden.
Im Innern des Schlösschens herrschte ein schlimmeres Gedränge als an Freitagen
in der Rua do Ouvidor, sodass ein Großteil der Gäste sich draußen aufhielt,
unter den Torbögen, auf dem Vorhof, an der Anlegestelle der Zubringerfähre. Die
Veteranen des Paraguay-Krieges hatten ihre Gala-Uniformen angelegt, Herren in
Zivil trugen Frack, Weste, Zylinder und weiße Fliegen. Ausnahmsweise waren die
Damen mit ihrer Garderobe im Vorteil: Die tief dekolletierten, ärmellosen
Ballkleider waren der sommerlichen Temperatur weitaus angemessener als die
zugeknöpften Anzüge der Männer. Manche Senhora hatte sogar auf lange Handschuhe
verzichtet, doch einen Fächer hielt jede von ihnen in der Hand, auch dies ein
Vorteil gegenüber den Männern, die zwar ebenfalls Luft brauchten, sich aber
nicht mit einem so femininen Accessoire schmücken durften.
Da der Ball offiziell zu Ehren der
Schiffsoffiziere der chilenischen »Almirante Cochrane« gegeben wurde, die vor
zwei Wochen im Hafen von Rio eingelaufen war – inoffiziell war die
Silberhochzeit von Prinzessin Isabel und dem Conde d'Eu der eigentliche Anlass –,
gehörte Vitória Castro da Silva zu den handverlesenen Gästen, die Zutritt zu
den Räumlichkeiten in der ersten Etage hatten: Ihr Besitz an chilenischen
Staatsanleihen war so immens, dass der Verkauf das Land in eine tiefe Krise
gestürzt hätte. Aber als Ehefrau von León Castro hätte sie ebenfalls Zutritt zu
den heiligen Hallen der kaiserlichen Familie gehabt.
Vitória quälte sich die schmale Wendeltreppe
hinauf, die eher zu einem Turmverlies zu führen schien als zu einem prachtvoll
hergerichteten Salon. Ein kleiner Scherz des Architekten, dachte Vitória. Diese
Treppe war so eng, dass sie sie mit einem voluminöseren Kleid nicht mehr hätte
beschreiten können. Aber die aktuelle Mode favorisierte Gott sei Dank schmale
Silhouetten, und Vitórias hellblaues Seidenkleid war mit seinem figurbetonenden
Schnitt durchaus mit dieser Treppe kompatibel. Es war so gewagt, dass es unanständig
gewirkt hätte, wären nicht die Materialien und Farben von so ausgesuchter
Unschuld gewesen. Das Oberteil ließ die Schultern fast zur Gänze frei, und ein
cremefarbener Streifen Seide, auf den Oberarmen gerafft, bildete über der Brust
und im Rücken zwei Halbmonde, die ihre Taille noch schmaler erscheinen ließen.
Der Rock war seitlich gerafft und gab den Blick frei auf eine weitere Lage
cremefarbener Seide. Die hellblauen Satinschuhe, die ebenfalls hellblauen
Handschuhe, die Vitória bis zur Mitte der Oberarme reichten, ein beigefarbenes
Seidenkreppband, das in die kunstvoll aufgesteckte Frisur eingearbeitet worden
war, ein Aquamarin-Collier sowie ein filigran geschnitzter Elfenbeinfächer
komplettierten die Garderobe, die Vitória vorzüglich stand. Die pastelligen
Farben ließen ihren Teint transparent und ihr Gesicht mädchenhaft erscheinen,
das Blau brachte ihre Augen zum Leuchten.
León, der hinter ihr die Treppe hinaufging, war
entzückt über die Aufmachung seiner Frau. So hübsch hatte Vita schon lange
nicht mehr ausgesehen! Abends ging sie nur noch selten aus, und tagsüber trug
sie fast ausschließlich sittsame dunkle Röcke
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