Ana Veloso
Joana erkannte sofort die günstige Gelegenheit,
endlich mit ihrem Mann über dessen Sorgen sprechen zu können. Sie hatte ihn
schon öfter rundheraus gefragt, was ihn bedrückte, doch er war ihr immer
ausgewichen. Jetzt, da Melancholie von ihm Besitz ergriffen hatte, seine Zunge
vom Alkohol gelöst und sein Gemüt von der Schokolade besänftigt war, würde er
reden.
»Natürlich möchte ich gerne Kinder haben,
vielleicht sogar noch lieber als du. Aber das kann warten. Es ist sogar ganz
gut, dass wir noch keine haben, denn wir haben zurzeit ja genügend andere
Sorgen.«
»Ja?«
»Diese grässliche Arbeit in der Schiffsstauerei.
Mein spärliches Einkommen. Unsere Abhängigkeit von Vita. Meine deprimierten
Eltern. Dieses Haus mit seinen Möbeln, die mir Albträume verursachen, die wir
aber nicht verkaufen können, weil sie uns nicht gehören. Enttäuschungen von der
Art, wie wir sie von Rogério erfahren haben. Die zunehmende Gewalt auf den Straßen
Rios, wo man sich vor lauter befreiten Schwarzen nicht mehr sicher fühlen kann.
Und zu allem Überfluss auch noch Vitas unschickliche Aktivitäten, die ein
schlechtes Licht auf uns werfen. Das ist alles ein bisschen viel auf einmal.«
»Du bist müde und abgearbeitet. Wenn du erst befördert
wirst und für mehr Geld weniger arbeiten musst, sieht die Welt schon wieder viel
freundlicher aus.«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Was soll diese Schwarzmalerei? Wir sind gesund,
haben ein Dach über dem Kopf und genug zu essen. Mehr als genug ...« Joana
klopfte zärtlich auf Pedros Bauch. »Und wir haben uns. Alles andere zählt nicht.«
Pedro schüttelte den Kopf. Sie würde ihn nie
verstehen. Manchmal überkam ihn der Verdacht, dass Joana sogar froh darüber
war, dass sie jetzt ein so viel bescheideneres Leben führten als früher. Mit
der subtilen Geheimsprache der Oberschicht, ihren Raffinessen und Intrigen war
sie nie vertraut gewesen, und jetzt brauchte sie sie auch nicht mehr zu lernen.
Joana konnte sich mit ihrem freien Geist, den er am Anfang ihrer Ehe so
bewundert und geliebt hatte, niemals in die kleinliche Denkweise der Leute einfühlen,
und deshalb würde sie den Schaden, den bösartige Gerüchte anstellten, nie
ermessen können.
»Das andere zählt sehr wohl! Ich jedenfalls will
nach meinem Erbe nicht auch noch meinen guten Ruf verlieren. Das Gerede über
Vita schadet auch uns. Und ich finde nicht, dass ihr Reichtum ihr das Recht
gibt, sich auf diese Weise in das Leben anderer zu drängen. Müssen wir uns, nur
weil wir arm sind, alles gefallen lassen? Weißt du, Joana, das alles stinkt mir
gewaltig.«
»Ihr alle scheint zu vergessen, wie jung Vita
noch ist. Und ich glaube, sie selber vergisst es auch. Sie sollte viel mehr
tanzen, sich mehr vergnügen, mehr flirten. Stattdessen trägt sie die
Verantwortung für die ganze Familie, erträgt tapfer Dona Almas Launen und den
senilen Spieltrieb eures Vaters. Sie muss sich alle möglichen Bosheiten von León
gefallen lassen und zu allem Überfluss auch noch von ihrer eigenen Familie
Vorhaltungen machen lassen. Ich finde es bewundernswert, dass sie nicht schon längst
ihre Sachen gepackt und eine schöne Europareise angetreten hat – allein,
wohlgemerkt. Sie hätte wirklich einmal einen Urlaub von uns allen verdient.«
»Damit wäre ihr Ruf dann vollends ruiniert.
Jeder würde vermuten, dass sie sich an der Riviera mit irgendwelchen polnischen
Grafen vergnügt und ihr Geld im Kasino verjubelt.«
»Und wenn schon. Ihr Ehemann vergnügt sich ja
mitten in Rio de Janeiro mit französischen Modistinnen, wenn es stimmt, was mir
Loreta erzählt. Und mit ihrem Vermögen kann sie machen, was sie will. Außerdem
würde sie wahrscheinlich am Roulettetisch gewinnen, bei ihrem Händchen fürs
Geld.«
Pedro verstand seine Frau nicht mehr. Was war
aus der braven kleinen Joana geworden, die ihn bewundert, unterstützt und gefördert
hatte? Woher hatte sie plötzlich diese libertinären Ansichten, die den seinen gänzlich
entgegengesetzt waren? Das, dachte Pedro, war nur ein weiteres seiner Probleme,
das er in seiner Aufzählung unterschlagen hatte. Wie sollte er ihr klarmachen,
dass ihm ihr Gerede von der Gleichberechtigung der Frau, so vernünftig es in
einigen Aspekten klang, schlichtweg auf die Nerven ging? Es gab Dringlicheres
als das Wahlrecht für Frauen, von dem Joana glaubte, dass es mit der
Proklamation der Republik ebenfalls ausgerufen werden würde, und das schon
bald. Und wofür?, fragte sich Pedro. Das einzige
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