Ana Veloso
und hochgeschlossene weiße
Blusen, als müsse sie allen beweisen, dass sie jeglicher Frivolität entsagt und
sich damit einen Platz in der Welt der Zahlenkolonnen erobert hatte. Er persönlich
fand das albern und ärgerlich obendrein, schließlich wollte er nicht als
Ehemann einer Krähe gelten. Aber gut, es wusste ja ohnehin jeder in der Stadt,
dass von einer Ehe kaum noch die Rede sein konnte.
Einen winzigen Moment lang war er versucht, Vita
von hinten zu umarmen oder ihr unter den Rock zu greifen. Ihr Kleid raschelte
verlockend, und bei jeder Stufe, die sie erklomm, erhaschte er einen Blick auf
ihre Füßchen und ihre zarten Fesseln. Aber nein, das würde er schön bleiben
lassen. Sie war imstande, ihn die Treppe hinunterzustoßen, und das wollte er
weder sich selbst noch den Leuten, die ein Stück hinter ihnen die Treppe
heraufkamen, zumuten.
Vitória fand die Situation unmöglich. Dom Pedro
II. gibt einen Ball an einem Ort, an dem Paare nicht nebeneinander
einher schreiten können, sondern an dem man, wie bei der Hintertreppe einer üblen
Spelunke, hintereinander hergehen musste! Vitória war sich durchaus bewusst,
dass sich Leóns Kopf auf Höhe ihrer Taille befand, und sie wusste genau, was
sich in diesem Kopf jetzt abspielte. Aus einer koketten Laune heraus, die sie
sich selber nicht recht erklären konnte, hob sie ihren Rock beim Hinaufgehen
ein kleines Stück höher als nötig und legte einen sinnlichen Schwung in ihre Hüften.
Oben angekommen, belegte sie sogleich ein
chilenischer Offizier mit Beschlag, während sich die Frau eines Ministers auf
León stürzte. Vitória und der schmucke Offizier unterhielten sich in einer
Kindersprache, die dem Thema ihrer Konversation – die Einführzölle auf
chilenische Handelsgüter – nicht gerecht wurde, da er kein Portugiesisch und
sie kaum Spanisch konnte. Zwar waren die beiden Sprachen verwandt, doch es
bedurfte all ihrer Fantasie sowie der Zuhilfenahme von Händen und Füßen, um
sich verständlich zu machen. Als wenig später León zu ihnen stieß und den
Offizier in fließendem Spanisch begrüßte, war Vitória, gelinde gesagt, überrascht.
Sie hatte zwar gewusst, dass León aus der Grenzregion zu Uruguay stammte, doch
ihn nun reden zu hören, war etwas ganz anderes. Das Spanische war härter als
das Portugiesische, hatte eine andere Satzmelodie, keine nasalen Laute, wurde
schneller und abgehackter gesprochen. Kaum merklich veränderten sich dabei auch
Leóns Gesichtszüge und seine Stimmlage. Seine Lippen wurden schmaler, sein Kinn
kantiger, in seinen dunklen Augen lag eine beängstigende Entschlossenheit. León
wirkte dadurch strenger, rücksichtsloser, roher. Mit seinem glänzenden
schwarzen Haar, das er, völlig der Mode zuwiderlaufend, kinnlang trug und zu
einem Zopf im Nacken gebunden hatte, aus dem sich einzelne Strähnen lösten und
ihm ins Gesicht fielen, sah León aus wie ein spanischer conquistador. Ja,
die andere Sprache machte aus León einen anderen Mann.
Interessant. Wie er wohl war, wenn er Französisch
sprach? Oder Englisch? Verwandelte er sich dann in einen steifen Gentleman?
Bevor Vitória dieser Frage weiter auf den Grund gehen konnte, waren sie von dem
träge dahinfließenden Menschenstrom zum Kaiser getragen worden. Dom Pedro II.,
der Brasilien fast ein halbes Jahrhundert lang regiert hatte, ein Schöngeist
und Mann der Wissenschaft, erinnerte Vitória an ihren Vater. Der Kaiser war
alt, wirkte schwach, und hinter seinem dichten Bart glaubte sie eine profunde
Verbitterung über die Undankbarkeit seines Volkes zu erkennen, das ihn, den
milden Monarchen, nicht mehr wollte. Sie wechselte kaum drei Worte mit dem
Kaiser, bevor die Menschenmasse sie weiterschob.
»Er stirbt«, sagte León. »Und alle lauern nur
darauf. Mit seinem Tod wäre die Republik unausweichlich – und ohne jede
Anstrengung zu verwirklichen.«
»Wie erbärmlich. Wäre ich ein überzeugter
Republikaner, würde ich für mein Ziel kämpfen und nicht die Hände in den Schoß
legen und auf den Tod eines geschlagenen alten Mannes warten.«
»Ja, du. Aber die meisten Menschen haben nicht
deinen ... Kampfgeist.« Aus seinem Mund klang es wie eine Beleidigung. »Aber
was noch erbärmlicher ist«, fuhr er fort, »ist, dass die Militärs die Republik
nicht herbeisehnen, weil sie an die republikanische Idee glauben, sondern weil
sie sich davon eine Erhöhung ihrer Sölde versprechen.«
»Was dich natürlich dazu bewegt, dein ganzes
philanthropisches Gedankengut zu vergessen
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