Ana Veloso
Ziel moderner Frauen schien
ein Leben ohne Korsett zu sein, und es gab keinen Politiker, der sich dafür
stark gemacht hätte, selbst wenn er privat Gefallen an derart entfesselten
Frauen fand. Dabei dachte Pedro wieder an das, was er gerade über León erfahren
hatte. Zum Teufel auch! Wenn León die eine oder andere Affäre hatte, so ging
das niemanden etwas an, sofern die Frauen verheiratet waren und die Liebelei
heimlich stattfand. Eine Geliebte gehörte für einen Mann der oberen Gesellschaftsschichten
schon fast zum guten Ton. Doch wenn er öffentlich mit anderen Frauen
auftauchte, noch dazu mit ledigen, dann ging er damit entschieden zu weit. Ein
Kavalier setzte seine Ehefrau nicht dieser Schmach aus – und sich selber nicht
der Gefahr, Vater von unehelichen Kindern zu werden.
»Was genau hat dir Loreta erzählt?«, fragte er
Joana mit mürrischer Miene.
»Ach, wahrscheinlich ist es nur dummes Zeug,
verzerrt und verfälscht nach dem Stille-Post-Prinzip.«
»Jetzt zier dich nicht so. Sag schon.«
»Loreta hat nur wiedergegeben, was Charles in
seinem Club von einem Freund gehört hat, der León gar nicht persönlich kennt,
ihn aber in Begleitung einer bildhübschen Französin im Theater gesehen hat.«
»Und diese Frau nennt sich > Modistin < ...«
»So ist es. Aber wir beide kennen ja León. Wir
wissen, dass er Umgang mit den verrücktesten Persönlichkeiten pflegt und sich
einen Spaß daraus macht, andere Leute damit vor den Kopf zu stoßen. Er spielt
nur mit unseren Vorurteilen, Pedro.«
»Jetzt verteidigst du ihn auch noch. Du warst
doch diejenige, die mir eben noch erzählt hat, dass er Vita untreu ist und ihr
damit praktisch einen Freibrief gegeben hat, sich selber ebenfalls
danebenzubenehmen.«
»Aber sie tut es nicht! Die Klatschsucht der
Leute stempelt sie zu einer Missetäterin ab, die sie einfach nicht ist. Glaubst
du etwa daran, dass sie etwas mit Aaron hat? Oder gar mit diesem Versager, Rogério?
Nein. Und dabei würde es ihr wahrscheinlich gut tun, mal wieder geküsst zu
werden.«
Pedro sah seine Frau entgeistert an. Diesmal
ging sie zu weit in ihrer absurden Verteidigung der Verfehlungen anderer Leute.
Er hatte sich ja bereits damit abgefunden, dass Joana gern die Partei von
Leuten ergriff, über die sich jeder normale Mensch lustig machte – die ihres
Bruders mit seinen lächerlichen Flugexperimenten, die ihres alten Freundes
Alvaro, der Fotograf war und an »bewegten Bildern« arbeitete, oder die dieser
Chiquinha Gonzaga, einer Frau, die für ihre Karriere als Musikerin ihren Mann
im Stich gelassen hatte. Er hatte ebenfalls Verständnis für ihre Mildtätigkeit,
etwa ihren Einsatz für bessere Lebensbedingungen der Irren in der Anstalt am
Stadtrand und die ehrenamtlichen Geigenstunden, die sie in einer Schule für Bedürftige
erteilte. Er hatte ihre unerklärliche Faszination für indische Folklore
akzeptiert und sich damit den täglichen Anblick einer abscheulichen Statue von
Ganesha auf dem Fensterbrett eingehandelt. Doch allmählich nahm Joanas
Verschrobenheit Ausmaße an, die er nicht länger dulden konnte.
Wohin sollte das alles führen? Sollte er sich
zusätzlich zu all seinen Problemen auch noch Gedanken um den Geisteszustand
seiner Frau machen müssen?
Joana dachte in diesem Moment etwas ganz Ähnliches.
Musste sie sich Sorgen um Pedros seelische Gesundheit machen? Konnten seine Ängste,
Nöte und sonderbaren Launen etwa die Symptome einer unheilbaren Schwermut sein?
Sie sah auf die Standuhr. Elf Uhr schon. Höchste
Zeit, ins Bett zu gehen – und Pedro auf andere Gedanken zu bringen.
XXVII
Ihr Geplänkel mit Rogério hatte nur eine halbe
Stunde gedauert, bot aber noch jetzt, drei Monate später, herrlichen Gesprächsstoff
für die Klatschtanten der Stadt, die einen Narren an dem gut aussehenden Rogério
und seiner tragisch anmutenden Aura gefressen hatten. Von einer unglücklichen
Romanze erzählten manche, von einer verbotenen Liebe wollten andere gehört
haben, besonders gut informierte Quellen wussten gar von verfeindeten Eltern zu
berichten und von einer skandalösen Entführung der Braut vom Altar weg, direkt
hinein in das Lotterbett des berüchtigten Abolitionisten León Castro. Das war
der Stoff, aus dem die Schundromane waren, die die Alten heimlich lasen, die dünnen
Hefte eingebettet in ihre dicken Gebetbücher. Weder Rogério, der sich in den
fantastischen Spekulationen sonnte, noch Vitória, die sich zu schade dazu war,
diesen Quatsch auch noch zu kommentieren,
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