Ana Veloso
Miranda
sahen ja, wie schnell sie durch den Flur lief.
Verärgert riss Vitória die Tür auf, die nur
leicht angelehnt war. Es verschlug ihr die Sprache. Der Besucher war eindeutig
derselbe Mann, der heute Morgen schon einmal da gewesen war. Und doch war er es
nicht. Der Mann, der jetzt in gespieltem Erstaunen eine Augenbraue hochgezogen
hatte und sie mit unverhohlener Bewunderung musterte, trug Abendkleidung. Er
war so elegant wie einer jener Herren, die Vitória von den Illustrationen aus
europäischen Magazinen kannte. Dabei wirkte er keineswegs verkleidet, im
Gegenteil. Er trug den dunkelgrauen Gehrock aus feinstem Tuch mit perfekter
Nonchalance. Aus der Reverstasche lugte ein rotes Seidentuch mit Monogramm.
Kein Stäubchen war auf seinen schwarzen Lackschuhen zu sehen, und nicht ein
einziges Haar verirrte sich aus dem pomadisierten Haar, das er entgegen jeder
Mode lang trug und mit einem schwarzen Samtband zurückgebunden hatte.
Mit übertriebener Höflichkeit lüftete er seinen
Zylinder und verbeugte sich tief vor Vitória. »Senhorita Vitória, ich weiß,
dass Sie nichts kaufen. Aber bestimmt nehmen Sie ein Geschenk von einem Freund
Ihres Bruders an?« Er reichte ihr ein kleines Päckchen, auf dem eine
himmelblaue Schleife thronte.
León Castro! Vitória war zutiefst beschämt. Sie
nahm das Geschenk entgegen und hoffte, dass er das Zittern ihrer Hände nicht
bemerken würde. Vergeblich.
»Aber Sinhazinha, wertes Fräulein! Vergebt mir
meine Aufdringlichkeit. Mein Name ist León Castro, und nichts liegt mir ferner,
als Sie zu ängstigen.«
Vitória zwang sich zur Contenance, doch die üblichen
Höflichkeitsfloskeln wollten ihr nicht über die Lippen kommen.
»Sie ängstigen mich nicht, Sie beleidigen mich!«
Dieser Unmensch hatte die Stirn, in voller
Abendgarderobe am Lieferanteneingang zu klopfen – einzig und allein, um sie zu
demütigen! War es nicht schlimm genug, dass sie ihn heute Morgen abgewiesen
hatte? Musste er sie durch diese unwürdige Komödie auch noch bloßstellen?
»Folgen Sie mir einfach.« Sie ließ ihn eintreten
und knallte die Tür hinter ihm zu. Sie wollte ihm vorangehen, doch dazu musste
sie zunächst an ihm vorbeikommen. León Castro aber stand wie angewurzelt in der
Mitte des Flurs und schien nicht die Absicht zu haben, beiseite zu treten. Als
sie sich seitlich an ihm vorbeischob, bedachte er sie mit einem spöttischen
Grinsen. Was für ein dreister Widerling! Dennoch konnte sie in dem kurzen
Moment dieser unangemessenen körperlichen Nähe nicht umhin, sein würzig-holziges
Parfüm zu bewundern.
Dann war es geschafft, und Vitória eilte
forschen Schrittes durch die Halle. Sie legte das Geschenk im Vorbeigehen
achtlos auf der Konsole ab. Sie drehte sich nicht ein einziges Mal nach Castro
um, doch hörte sie an seinen Schritten, dass er dicht hinter ihr war.
Vitória fühlte sich auf beunruhigende Weise
beobachtet. Endlich erreichten sie die Veranda.
»Le6n! Meine Güte, bist du im Dienste deiner
Zeitung jetzt schon im Wirtschaftstrakt auf der Suche nach einer heißen
Geschichte?« Pedro war aufgesprungen und klopfte seinem Freund jovial auf den Rücken.
»Ganz recht. Und deine entzückende Schwester war
so freundlich, mir bei dieser Recherche behilflich zu sein.«
Pedro sah Vitória fragend an. »Was soll das heißen?«
Vitória blieb ihm eine Antwort schuldig. Sie war
vor Wut und vor Scham tiefrot angelaufen. Auch das noch – der Kerl war ein
Schreiberling! Wahrscheinlich würde er diese kleine Episode zu einer Glosse
verarbeiten, die alle Sinhazinhas im Umland von Rio als schlecht erzogene und
hochnäsige Dorftrampel dastehen ließe. In der Zwischenzeit hatte sich João
Henrique erhoben, um den Freund zu begrüßen. Als schließlich auch Aaron
aufstand, bewegte er sich dabei so ungeschickt, dass er ein Glas umstieß. Die
ganze Limonade ergoss sich auf seine Hose, und während die anderen noch
lauthals über dieses Missgeschick lamentierten, sah Aaron auffordernd zu Vitória.
Sie begriff sofort. Sie nahm Aaron bei der Hand und zog ihn mit sich. »Kommen
Sie, wir müssen den Fleck schnell mit Seife und warmem Wasser reinigen.«
In der Halle blieben sie stehen. »Hat León Sie
absichtlich in Verlegenheit gebracht?« Aaron schmunzelte. »Das macht er gern.
Ist uns anderen auch schon so ergangen.«
Vitória war verblüfft angesichts Aarons guter
Beobachtungsgabe. Und sie hatte sich eingebildet, dass ihre Miene nichts von
ihrem Gemütszustand verriet.
»Wissen Sie, er war
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