Ana Veloso
heute Morgen schon hier. Da
er gefährlich aussah und obendrein verwahrlost, habe ich ihm keine Gelegenheit
gegeben, sich überhaupt vorzustellen. Ich habe ihn brüsk abgewiesen. Himmel,
was für eine Blamage!«
Aaron lachte. »Ach was. Das ist sein ältester
Trick, und João Henrique ist auch schon darauf hereingefallen. Also beruhigen
Sie sich wieder. Und wegen meiner Hose brauchen Sie sich erst recht keine
Gedanken zu machen. Sie muss eh dringend gesäubert werden. Am besten gehe ich
jetzt gleich auf mein Zimmer und ziehe mich um.«
Vitória rief Felix und wies ihn an, Aaron sein
Zimmer zu zeigen und das Gepäck hinaufzubringen. Dann straffte sie die
Schultern, wappnete sich seelisch für die nächste Begegnung mit dem
Schreiberling und drückte Aaron ein freundschaftliches Küsschen auf die Wange. »Danke.«
Sie ahnte nicht, was sie damit anrichtete. Aaron
war, nachdem Felix seine Taschen ausgepackt und seine Hose zum Waschen sowie
seinen Rock zum Nähen mitgenommen hatte, wie in Trance aufs Bett gefallen. Die
Augen starr zur Decke gerichtet, hing er einem Tagtraum nach, den Vitória soeben
in ihm geweckt hatte. Genau so eine Frau wollte er, keinen Deut anders sollte
sie sein. Mit ihrer makellosen, weißen Haut, dem schwarzen Haar und der
zierlichen Figur sah sie aus wie eine Märchengestalt. Ihre Augen waren von
einem erschütternden Blau, und ihr Profil mit der hohen Stirn und der geraden
Nase war das aristokratischste, das er bisher gesehen hatte. Diese Schönheit
fand ihre Entsprechung offenbar in ihrem Geist, der offen, wach und frei zu
sein schien. Ach nein, er durfte sich diesen Traum nicht gestatten, er musste
sie sich schleunigst aus dem Kopf schlagen! Sie war katholisch, ihre Eltern würden
sie niemals einem Juden anvertrauen. Und er war Ruth versprochen, einer netten
jungen Frau, die er schon seit Jahren kannte. Sie war die Tochter des Advokaten
Schwarcz, eines Nachbarn seiner Eltern in São Paulo, und eines Tages sollte er
in dessen Kanzlei einsteigen. Aber Ruth war so unscheinbar! Ganz bestimmt würde
sie eine perfekte Ehefrau sein, aber nie würde sie seine Gefühle so in Aufruhr
versetzen, wie ein einziger Blick auf Vitória es tat.
Schluss damit! Vitória hätte ja auch ein Wort
mitzureden, und es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie sich für ihn
interessieren würde. Ihn, einen praktisch mittellosen Bürger, der nichts weiter
besaß als einen schlauen Kopf und große Ambitionen. Er wusste, dass er es in
Brasilien zu etwas bringen konnte. Seine Eltern hatten viele Entbehrungen auf
sich genommen, um ihm ein Studium an der besten Rechtsfakultät des Landes zu
finanzieren. Er war ihnen dankbar dafür, so dankbar, dass er sich jederzeit
ihrem Willen beugen würde. Wenn sie darauf bestanden, dass er Ruth zur Frau
nahm, dann musste er das akzeptieren, so schwer es ihm auch fiel. Schön, aber
das würde ihn nicht davon abhalten, sich an Vitórias prickelnder Präsenz zu
erfreuen.
Aaron wusch sich, bändigte seine wilden Locken,
zog sich seinen besten Anzug an und begab sich nach unten. Im Treppenhaus blieb
er immer wieder stehen, um sich die Gemälde anzusehen, die dicht an dicht dort
hingen. Da waren holländische Stillleben, französische und deutsche
Winterlandschaften, Bilder von portugiesischen Seeschlachten und zahlreiche
Porträts der Familie da Silva. Pedro erkannte er sofort wieder, wie er da als
kleiner Junge ernst auf einem Sessel saß, der viel zu groß war. Auch Vitória
war gut getroffen – sie sah auf dem Gemälde, das sie als etwa 12-Jährige
zeigte, schon fast genauso hübsch aus wie heute. Dann widmete er sich den
anderen Porträts. Den Messingschildern entnahm er, dass es sich um die Eltern
handelte. Eduard() da Silva hatte in seiner Staatsmontur, die überreich mit
Epauletten, Schärpen und Orden verziert war, etwas Furchteinflößendes an sich.
Das Bild zeigte ihn als einen gut aussehenden Mann, und Aaron war gespannt, ob
die Wirklichkeit hielt, was das Porträt versprach. Direkt daneben hing ein Gemälde
von Dona Alma. Sie war von einer ätherischen Schönheit, doch ihr Blick wirkte
stählern, und ihre Lippen waren einen Hauch zu dünn, um ihr den Ausdruck von
Sanftmut zu verleihen, der bei den Porträtmalern jener Zeit so beliebt war.
Aaron fragte sich, warum keine Bilder von den Ahnen dort hingen, wie es bei den
Familien mit klangvollen Namen üblich war. Das würde er Pedro fragen, wenn sie
einmal unter vier Augen wären.
Als er die Veranda erreichte,
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