Ana Veloso
müde Krieger, die
ihren schwersten Kampf siegreich hinter sich gebracht hatten, wie zwei
Raubkatzen, die sich nach der nächtlichen Jagd träge ausstrecken. Glücklich und
abgekämpft. Vitórias Gesicht war dem seinen zugewandt. Sie betrachtete sein
edles Profil, seine kantigen Kieferknochen unter dem blauen Schimmer seiner
unrasierten Haut. Wie schön er war! León schluckte, und Vitória fand seinen hüpfenden
Adamsapfel unwiderstehlich. Als habe er durch die geschlossenen Augen gemerkt,
dass sie ihn beobachtete, richtete sich León halb auf, stützte seinen Kopf auf
die Hand und sah sie an.
»War es das, was du wolltest?«
»Ja.« Vitória rollte sich auf die Seite und
legte den Kopf auf ihren ausgestreckten Arm. »Ich sterbe vor Durst. Holst du
von unten etwas zu trinken? Ich glaube, ich kann nicht mehr gehen.«
Als Vitória am Morgen erwachte, wusste sie zunächst
nicht, wo sie war. Die gelben Gardinen, das Muster an der holzgetäfelten Decke
und die gelb-grün geblümten Tapeten waren ihr völlig unbekannt. Dann sah sie
das Messingkopfteil ihres Bettes an, und mit einem wohligen Räkeln ihrer
Glieder entsann sie sich der Orgasmen, die ihr León verschafft hatte. Plötzlich
schrak sie auf. Was war nur in sie gefahren? Wie hatten sie nur so etwas tun können?
Stundenlang hatten sie sich in wilder Leidenschaft geliebt, wenn man denn von »lieben«
reden konnte, hatten sich von ihren niedrigsten Instinkten beherrschen lassen,
sich in glühender Hingabe gewälzt, hatten wie Tobsüchtige gewütet, gezuckt,
geschrien, hatten alles um sich herum vergessen. Alles. Aber mit dem Tageslicht
kam auch die Erinnerung.
Zwei Zimmer weiter lag ihr toter Bruder.
XXXIII
Der Regen, das monotone Trommeln der Tropfen auf
dem Schirm, der lange Zug der schwarz gekleideten Trauernden, der Sarg, der von
sechs Männern getragen wurde und auf dem ein Blumengesteck die Blüten hängen
ließ – all das wäre noch gegangen. Aber die tieftraurigen Lieder, die der
Schwarzenchor sang, waren einfach nicht zu ertragen. Vitória konnte die Tränen
nicht länger zurückhalten.
Der Pfarrer hatte Pedro kaum gekannt. Zwar war
ihr Bruder jeden Sonntag in die Kirche gegangen, aber er hatte weder den
Austausch mit dem Geistlichen gesucht noch regelmäßig die Beichte abgelegt.
Dennoch sprach der Pfarrer von Pedro wie von einem guten alten Freund. Er führte
so viele Einzelheiten aus Pedros vorbildlichem Leben an, dass Vitória
vermutete, er müsse Joana und Dona Alma stunden-, wenn nicht gar tagelang
befragt haben. Er sprach von Pedros Rechtschaffenheit, von seinem Fleiß, seiner
Ehrlichkeit, seiner Treue, seiner Ergebenheit für Frau und Familie, und jede
dieser Tugenden belegte er mit einem Beispiel. Pedros löblichen Einsatz für
Schwächere veranschaulichte er anhand der alten Geschichte, wie Pedro, unter
Einsatz seines Lebens, seine kleine Schwester von einer Weide mit einem
aggressiven Stier gerettet hatte. In Wahrheit hatte die Episode, die der
Pfarrer vortrug, sich ganz anders abgespielt. Es war eine Mutprobe gewesen, und
Vitória hatte sich als Erste getraut, auf die Weide zu laufen. Pedro war erst
gekommen, als ihre alte Babá nach ihnen rief – und hatte dann behauptet, dass
er Vita habe retten wollen. Und sie hatte es nie richtiggestellt, hatte ihm das
Lob der Eltern gegönnt und sich selber bemuttern lassen. Schon damals, dachte
Vitória, war sie die Stärkere gewesen. Mit sieben Jahren hatte sie den 13-Jährigen
Pedro fest im Griff gehabt, hatte ihm das Petzen und das unbegründete Heulen
abgewöhnt und ihn gelehrt, was Stolz bedeutete. Sie hatte ihm ebenfalls
beigebracht, dass man sich niemals als Gewinner hinstellen durfte, wenn man in
Wahrheit der Verlierer war – jedenfalls nicht, wenn man nicht Vitória, »Sieg«,
hieß.
Hätte sie sich in den vergangenen Jahren nur
halb so viel um Pedro gekümmert wie damals, hätte sie ihn genauer beobachtet und
ihm seine Geheimnisse entlockt, hätte sie ihm mit ihrer Stärke und nicht allein
mit ihrem Geld geholfen – wäre er dann noch am Leben? Wann hatte sie ihn
zuletzt spüren lassen, dass sie ihn liebte und bewunderte? Wann hatte sie ihm
das letzte Mal etwas Nettes gesagt, ein Kompliment gemacht, ihn gelobt? Das
musste eine Ewigkeit her sein. »Und pass auf, dass dir vor lauter Eile nicht
die Törtchen hochkommen.« Wenn sie sich nicht sehr täuschte, war das der letzte
Satz gewesen, den sie zu Pedro gesagt hatte. Nie wieder würde sie die
Gelegenheit haben, ihm ein anderes Andenken
Weitere Kostenlose Bücher