Ana Veloso
von sich mit ins Grab zu geben als
diesen schrecklichen Satz. Aber vielleicht, tröstete sich Vitória, hat er auf
seinem Sterbebett ja doch noch etwas von dem mitbekommen, was um ihn herum passierte.
Vielleicht hatte in dem tödlich verwundeten Körper noch ein klarer Geist
gesteckt – oder eine unsterbliche Seele? – und ihn die schönen Abschiedsworte
verstehen lassen. Ein lauter Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Himmel, dieses
Kind war ja nicht zum Aushalten! Woher hatte es bloß diese durchdringende
Stimme? Von seinem Vater bestimmt nicht. In dem Blick, mit dem sie Félix und
das Bündel auf seinem Arm bedachte, lag müde Gereiztheit.
Félix merkte davon nichts. Überhaupt entging ihm
das meiste, was bei dieser Beerdigung passierte. Felipe beanspruchte seine
ganze Aufmerksamkeit. Der Kleine schrie wie am Spieß, seit Wasser vom Schirm
direkt in sein Gesicht getropft war. Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen,
sosehr Félix ihn auch schaukelte, küsste, ihn anlächelte oder ihn mit der Nase
anstupste, sonst ein unfehlbares Mittel gegen alle Brüllattacken. Wenn dieser
langweilige Pfarrer nicht bald aufhörte zu reden, würden sie gehen müssen,
bevor die Zeremonie beendet war. Nicht dass es ihm viel ausgemacht hätte. Aber
es wäre sehr unhöflich gegenüber der Familie des Toten gewesen.
Félix war noch ein Kind gewesen, als Pedro aus
seinem Elternhaus ausgezogen war, und der Tod des Mannes ging ihm nicht sehr
nahe. Félix war nur hier erschienen, weil die Familie da Silva auch zu Josés
Beerdigung gekommen war und weil Fernanda meinte, sie müssten Luiza beistehen.
Das hatten sie jetzt davon. Sie standen sich am Grab eines mehr oder weniger
Fremden die Beine in den Bauch, bekamen nasse Füße und setzten ihren Sohn der
Gefahr einer Lungenentzündung aus. Fernanda dachte genau dasselbe wie er, das
sah er ihr an, auch wenn sie tapfer neben Luiza verharrte, die mit gesenktem
Kopf und verweinten Augen an ihrem Arm hing. Aber Félix wusste, dass Fernanda
immer auf ihrer Unterlippe herumkaute, wenn sie nervös oder ungeduldig war, und
jetzt kaute sie, dass sie aussah wie eine malmende Kuh. Wenn der Pfarrer noch
mehr Anekdoten aus dem Leben des Pedro da Silva zum Besten geben würde, wäre
Fernandas Lippe bald rohes Fleisch.
Dona Alma dachte an ihre Enkelkinder – die sie
nun nie mehr haben würde. Pedro und Joana war kein Nachwuchs vergönnt gewesen,
Vitória wollte keine Kinder. Ihre Linie würde aussterben. Ihr Name würde in
Vergessenheit geraten. An ihren Gräbern würde niemand um sie weinen. Von der
Erdoberfläche gelöscht, als hätte es sie nie gegeben. Dieser Gedanke war von
einer so erschütternden Tragweite, dass Dona Alma die Knie weich wurden. Er war
noch grausamer als die Bilder, die sie Nacht für Nacht verfolgten, Bilder von
einem leblosen Körper, der wie ein Stück Treibholz in den Wellen
herumgewirbelt, der von der Strömung auf die spitzen Felsen gerissen wurde,
Visionen von dem weißen, unschuldigen Leib ihres Sohnes, nach dem die Tentakeln
des Todes griffen, der von den dunklen Mächten auf dem Meeresgrund in die Tiefe
gezogen wurde. Dona Alma hatte Wasser schon immer gehasst. Und sie hasste es in
diesem Moment, da der Regen bereits die Seitenwände des offenen Grabes
aufzuweichen drohte, mehr als je zuvor.
León deutete auf seine Taschenuhr und gab dem
Pfarrer dadurch zu verstehen, dass er mit seinem endlosen Gerede ein Ende
finden solle. Die Köpfe der Blumen auf dem Sarg waren umgeknickt, das
Spruchband hing so triefnass herab, dass man die Worte darauf nicht mehr lesen
konnte. Die neben dem Grab aufgehäufte Erde verwandelte sich zusehends in
Matsch, und die Trauergäste waren alle mit ihren Nerven am Ende. Was für ein
unwürdiges Spektakel! Wie konnte dieser Pfaffe es wagen, sich selbstverliebt
als Zeremonienmeister des Weltuntergangs zu inszenieren? Er schien es ja förmlich
zu genießen, mit tiefer, todernster Stimme gegen den Regen und das Geplärre des
Babys anzureden.
Und was für einen Unsinn er erzählte! Ein Mensch
war gestorben, kein Heiliger. Ein schwacher Mensch, den León früher einmal
wegen seiner Aufgeschlossenheit, seiner Lebensfreude, seiner Integrität gemocht
hatte, der aber in den vergangenen Jahren immer deutlicher seine Schwächen und
Fehler herausgebildet hatte. Pedro war unflexibel, intolerant und humorlos geworden.
Sein alter Freund hatte sich zu einem Mann entwickelt, der vor der Realität
davonlief, anstatt ihr ins Auge zu sehen, der Zuflucht in
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