Ana Veloso
schneller wieder dem Leben stellen können als in diesem
heruntergekommenen Haus.
Vitória fand, dass es an der Zeit war, Joana
nicht länger zu schonen, ihr nicht ständig nur aufmunternde, nette Worte zu
sagen. Vielleicht brächte es mehr, sie anzugreifen und ihren alten
Widerspruchsgeist hervorzulocken.
»Du hast nie auf Boavista gelebt. Dir mag es
wenig bedeuten, wenn es verrottet und deinen Seelenzustand damit widerspiegelt.
Aber hast du mal darüber nachgedacht, wie ich mich hier fühle? Ich bin in
diesem Haus geboren, habe zwanzig Jahre meines Lebens hier verbracht. Jeder
braune Rand auf der Tapete erinnert mich an das Bild, das dort früher gehangen
hat. Dieser mottenzerfressene Vorhang hinter dir erinnert mich an die sonnigen
Tage, da ich diesen einst schweren, steifen, prächtigen Vorhang zuziehen
musste, damit die Hitze nicht ins Haus dringt, und bei dem Anblick des
zerkratzten Tisches denke ich an all die stinkenden Polituren, mit denen wir
ihn damals gepflegt haben, an den dicken Filz unter der Tischdecke, damit er
keine Kratzer abbekommt. Für dich ist das alles hier nichts weiter als ein Bühnenbild,
in dem du deinen großen Auftritt als trauernde Witwe hast. Für mich ist es das
einzige Zuhause, das ich je hatte. Aber«, schloss Vitória, die sich jetzt
richtig in Rage geredet hatte, »dir gehört der Tisch ja nicht, warum solltest
du dich also um seinen Zustand scheren?«
Joana erhob sich und verließ wortlos den Raum.
Sie zitterte am ganzen Körper, und Vitória bereute bereits die Härte ihrer
Worte. Ach, morgen hätte sich Joana wieder abgeregt. Und wenn erst das Haus
wieder in einem halbwegs passablen Zustand war, würde sie ihr dankbar dafür
sein.
Sie klingelte nach Elena und bat sie, auch die
anderen Dienstboten zu rufen.
»Für alle, denen vielleicht ein Wort des Gesprächs
zwischen Sinhá Joana und mir entgangen sein sollte – Boavista wird wieder in
altem Glanz erstrahlen. Das bedeutet: Eure Faulenzerei hat ein Ende. Der Ofen
wird die ganze Nacht über an bleiben, damit Sinhá Joana und ich morgen Früh heißes
Badewasser haben. Dafür ist Luíz verantwortlich. Ihr seid alle um sechs Uhr zur
Stelle. Sollte ich selber noch nicht aufgestanden sein, folgt ihr den
Anweisungen von Elena. Das Frühstück wird um sieben Uhr serviert. Es sollen Mamão
und Mango, Eier und Speck, Pfannkuchen und Gelee, Brot, Butter und Käse auf dem
Tisch stehen. Wir brauchen Kraft für die Arbeit, die vor uns liegt.« Sie
musterte die betroffenen Gesichter dieser armen fünf Gestalten, denen die Sinhá
sichtlich nicht geheuer war. »Morgen werde ich jedem von euch einen eigenen
Aufgabenbereich zuteilen, ganz nach seinen Fähigkeiten oder Begabungen.
Irgendwelche Fragen?« Vitória hatte nicht damit gerechnet, dass einer der
eingeschüchterten Schwarzen tatsächlich eine Frage hatte. Sie wollte bereits
weitersprechen, als sich die glupschäugige Ines meldete.
»Wo kriegen wir so schnell Papayas und Mangos
her?«
»Von den Bäumen, an denen sie zu hunderten hängen,
woher sonst? Der junge Sebastião hier sieht mir recht kräftig aus, er soll
gleich bei Sonnenaufgang eine Leiter holen und ein paar Früchte ernten.«
Von Ines' Mut angestachelt, traute sich jetzt
auch Joaquim, der Sinhá eine Frage zu stellen. »Und wo sollen wir schlafen? Die senzalas sind schon ganz verfallen.«
Vitória grauste es bei dem Gedanken, dass sie
diesen hilflosen und verblödeten Leuten in den kommenden Wochen ein paar
Manieren und ein wenig Eigeninitiative beibringen sollte.
»Ganz sicher nicht länger in einem der Gästezimmer.
Was weiß ich. Baut euch ein provisorisches Lager in der Vorratskammer oder in
der Scheune. Morgen sehen wir weiter. So, und jetzt dürft ihr gehen und euch
den Rest der rabada schmecken lassen. Gute Nacht.«
Sie war bereits an der Tür, als sie hörte, wie
der junge Bursche, Sebastião, leise einen der anderen fragte: »Was heißt denn > prosivorisch < ?«
Auf ihrem Zimmer stellte Vitória fest, dass
einer der Schwarzen immerhin so viel Verstand besessen hatte, ihr Gepäck
heraufzubringen und ihr Bett zu beziehen. Die erste erfreuliche Begebenheit
dieses Tages. Ein Anfang. Die Bettwäsche war zwar nicht gebügelt, wirkte aber
sauber. Vitória zog sich aus, legte ihr Kleid über den Stuhl und machte sich,
nur mit Unterwäsche bekleidet, daran, in ihrem Koffer nach einem Nachthemd zu wühlen.
Nach ein paar Sekunden gab sie die Suche auf. Wofür brauchte sie ein Nachthemd?
Es würde ja wohl kaum einer
Weitere Kostenlose Bücher