Ana Veloso
brechen unsere
tierischsten Instinkte – essen und kopulieren – hervor. Es ist, als wolle man
damit den eigenen unausweichlichen Tod bezwingen, es ist eine Verhöhnung der
Vergänglichkeit.« Sie hielt kurz inne. »Ach, wie pathetisch ich daherrede! Es
tut mir Leid, Joana. Wir waren in dieser Nacht nicht wir selbst.«
Joana sah weiterhin auf ihre Schuhspitzen. »Aber
ihr habt dem Tod tatsächlich ein Schnippchen geschlagen. Du bist schwanger,
oder?«
Vitória nahm den Limonadenkrug und füllte ihre
Gläser auf, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Woher wusste Joana das nun
wieder? Sie selber wusste es ja erst seit ein paar Tagen. Da sie sich
ausgezeichnet fühlte und diesmal die Übelkeitsanfälle ausblieben, konnte Joana
es ihr auch nicht angesehen haben.
»Tja, Joana, ist das nicht eine bittere Ironie
des Schicksals? Wie sich alles wiederholt – nur unter anderen Vorzeichen? León
ist auf dem Weg nach Europa, ich sitze schwanger auf Boavista, und egal welchen
Weg ich einschlage, er führt immer nur ins Unglück.«
»Aber warum denn?!« Joana sah Vitória ungläubig
an. »Du hast es so gut! Dein Mann lebt wenigstens.« Sie schluchzte auf, wischte
sich jedoch sofort die Tränen aus dem Gesicht und zwang sich zu einem
sachlichen Ton. Sie hob den Brief hoch. »Hier hast du den Grund für eure
verfahrene Geschichte. Alles basierte nur auf einem tragischen Missverständnis.
Das allein wäre Grund genug, León zu verzeihen. Und dann erwartest du ein Kind
von ihm, ihr habt die besten Chancen für einen Neuanfang. Du musst ihm noch
heute schreiben!«
»Ich will das Ganze nicht noch einmal
durchmachen. Ich habe es satt, mich von ihm beschimpfen und beleidigen zu
lassen. Weißt du, was er tun wird, wenn er von meiner Schwangerschaft erfährt?
Nein, du hast keine Ahnung, zu welchen Gemeinheiten er fähig ist, nicht wahr?
Ich werde es dir sagen: Entweder wird er mir unterstellen, das Kind sei von
Aaron, oder er wird, wenn er sich für den Vater halten sollte, alles
daransetzen, nach der Scheidung das alleinige Sorgerecht für das Kind zu
bekommen. Den Teufel werde ich tun, Joana! Er wird nie von dem Kind erfahren.«
»Du willst es doch nicht etwa wieder ...«
»Nein. Ich will es bekommen. Ich freue mich
sogar darauf. Ich habe jahrelang geglaubt, die Abtreibung hätte mich
unfruchtbar gemacht, und das hat mich mehr bedrückt, als ich es mir selber
eingestehen wollte. Ich werde einen echten kleinen Brasilianer in die Welt
setzen, der sich weder seines Indio-Blutes, so verdünnt es auch sein mag, noch
seiner Mutter zu schämen braucht.«
Joana sah Vitória mit gerunzelter Stirn an. »Was
...?«
»Ach, hat León dich in seinem Edelmut mit der
Wahrheit verschont? Ich habe immer gedacht, ihr hättet keine Geheimnisse
voreinander. Leóns Mutter lebt, sie stammt zur Hälfte von Indios ab und ist
eine Ex-Sklavin.«
Joana schlug die Hände vor den Mund. Durch die
gespreizten Finger flüsterte sie: »Der arme, arme Mann.«
»Ja, der arme Mann hat uns alle an der Nase
herumgeführt. Joana, begreif doch endlich! León ist durch und durch verlogen
und feige. Ich frage mich, wie ich es überhaupt so lange mit ihm ausgehalten
habe.«
»Nein, Vita, begreif du doch. Er hat das nur aus
Liebe zu dir getan. Hättest du ihn geheiratet, du, die stolze Sinhazinha, wenn
du von seiner Herkunft gewusst hättest?«
»Vielleicht. Nein, ich glaube nicht. Aber das
gab ihm nicht das Recht, mit einer so ungeheuerlichen Lüge meine Entscheidung
zu seinen Gunsten zu wenden.«
»Ist denn seine Indio-Abstammung so furchtbar?«
»Überhaupt nicht. Ehrlich gesagt wäre ich sogar
froh, wenn das Kind mehr nach Dona Doralice schlagen würde als nach Dona Alma.
Sie ist sehr schön, weißt du, außerdem intelligent und warmherzig.«
»Und dieser wunderbaren Frau willst du ihren
Enkel vorenthalten? Deinem Mann sein Kind, deinem Kind seinen Vater? Wie soll
das funktionieren, Vita? Was erzählst du deinem Kind, wenn es eines Tages nach
seinem Vater fragt?«
»Ich weiß nicht. Mir wird schon etwas einfallen.«
»Und deine Eltern? Irgendwann kommen sie von
ihrer Reise zurück, was sagst du ihnen dann?«
»Ich werde Dona Alma von meiner unbefleckten
Empfängnis überzeugen und von ihr zu einer Heiligen erklärt werden, etwas,
nebenbei bemerkt, was sie schon längst hätte tun sollen.«
Beide brachen in albernes Gelächter aus, das
wenig später bei beiden in hysterisches Weinen umschlug und dann wieder, als
sie sich in die verheulten Augen sahen, von
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