Ana Veloso
die Stirn haben, sich wie eine persönliche Zofe
aufzuführen und sich in ihr Zimmer zu wagen. Vitória zog sich nackt aus,
krabbelte unter das Laken und fiel sofort in einen tiefen, ruhigen Schlaf.
Es war noch dunkel, als sie aufwachte, doch instinktiv
wusste Vitória, dass es früh am Morgen war und in Kürze die Sonne aufgehen
musste. Sie tastete nach den Streichhölzern auf ihrem Nachttisch, um die Lampe
anzuzünden. Dann schwang sie sich voller Tatendrang aus dem Bett, hob ihr Kleid
vom Stuhl hoch und kramte in der Rocktasche nach der Taschenuhr, die sie immer
bei sich trug. Zehn vor fünf. Sie hatte acht Stunden fest geschlafen. Sie fühlte
sich wunderbar erfrischt und war erfüllt von einer prickelnden Vorfreude, wie
sie Kinder am Weihnachtstag spüren oder junge Mädchen vor ihrem Debütantinnenball.
Hatte sie etwas Schönes geträumt? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern.
Doch über Nacht war ihre Überspanntheit verflogen, hatte sich ihre gereizte
Stimmung in eine positive Energie verwandelt, die sie berauschte. Es schien
ihr, als läge die Verheißung einer glorreichen Zukunft in der Luft. Vitória hob
den Koffer auf ihr Bett und begann mit dem Auspacken. Sie stellte ihre
Toilettenartikel auf den Waschtisch und fand, dass ihr Zimmer dadurch schon ein
wenig wohnlicher wirkte. Sie hängte die Kleider auf Bügel, schichtete Wäsche
und Strümpfe zu akkuraten Stapeln, die sie in den muffig riechenden Schrank
legte. Himmel, das war ja widerlich! Mit dem Parfümzerstäuber, den ihr die
Dienstboten in Rio geschenkt hatten, besprühte sie das Innere des Schranks,
dann schlüpfte sie in das am wenigsten zerknitterte Kleid, das zufällig auch
das hellste war, das sie dabeihatte. Was kümmerte sie die Etikette, wonach sie
Trauer hätte tragen müssen? Sie musterte sich im Spiegel und fragte sich, warum
sie das Kleid, auch vor Pedros Tod, so lange nicht mehr angezogen hatte. Es war
hellgrün, aus ganz feiner Wolle, und es stand ihr nicht nur vorzüglich, sondern
passte auch perfekt zu der aufgeräumten, hoffnungsfrohen Laune, die von ihr
Besitz ergriffen hatte.
Viertel vor sechs. Gleich würde die Sonne
aufgehen. Vitória öffnete die Vorhänge und lehnte sich weit aus dem Fenster,
den Blick gen Osten gerichtet, um keine Sekunde dieses Schauspiels zu
verpassen. Sie wollte sehen, wie das Schwarz des Himmels langsam in ein dunkles
Blau überging, wie die Wolken von den ersten Sonnenstrahlen leuchtend orange
gefärbt wurden, wie es türkis und violett am Horizont schimmerte, bevor sich
die Rundung der Sonne darüber hob und die Erde zum Leben erweckte. Die Stille
wurde durchbrochen von schlurfenden Schritten im Hof. Joaquim gähnte und knöpfte
sich das Hemd zu, während er Richtung Küche ging. Gleich nach ihm kam Ines, die
sich schlaftrunken die Augen rieb. Gut, dachte Vitória schmunzelnd, ihre Worte
waren also nicht auf taube Ohren gestoßen. Als der Hof wieder still dalag,
hatte Vitória plötzlich das sichere Gefühl, dass nicht nur sie sich über Nacht
verändert hatte. Sie blähte die Nasenflügel. Ja, jetzt, da sich das Parfüm
verflüchtigte, mit dem sie gegen den Mief angekämpft hatte, roch sie es. Der
zarte, betörende, überwältigende Duft der Kaffeeblüte! Der Duft, der einer
reichen Ernte vorausging, der das Versprechen auf Glück barg! Vitória schloss
die Augen und sog gierig die Luft ein, die nach allem duftete, was ihr lieb und
heilig war, die so köstlich war, dass es schmerzte.
Sie musste mindestens zehn Minuten mit
geschlossenen Lidern verharrt haben, völlig versunken in die Erinnerungen, die
das süße Aroma in ihr auslöste. Als Vitória die Augen wieder aufschlug, sah sie
die ersten Sonnenstrahlen, die flach auf der Erde lagen, sie streichelten und
sie in ein goldenes Licht tauchten. Vor ihr lag eine verzauberte, weiß getupfte
Märchenlandschaft. Wie herrlich das war! Sie hatte in den vergangenen Jahren
nichts gesehen, was es auch nur annähernd mit diesem Wunder aufnehmen konnte.
Aber warum erstaunte die Kaffeeblüte sie so?
Auch wenn die Felder verwildert waren, auch wenn die Sträucher derart in die Höhe
geschossen waren, dass sie nicht mehr abgeerntet werden konnten, gab es sie
doch noch. Sie wuchsen, blühten, trugen Früchte – ganz ohne das Zutun der
Menschen. In einem sich ewig wiederholenden Zyklus erneuerte sich die Natur
immer wieder selbst, entstand aus dem Abgestorbenen Neues. So wie die Luft
regelmäßig ein Gewitter brauchte, um wieder klar und rein zu werden,
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