Ana Veloso
kennen gelernt hatte? Nach einigen Wochen war ihr Entschluss
gereift: Sie würde León schreiben, ihm den alten Brief schicken, der alles erklärte.
Sie würde ihn um Verzeihung bitten, für ihre Unterstellungen, ihren Mangel an
Vertrauen in seine Zuverlässigkeit und seine Ehrenhaftigkeit. Sie würde ihn
bitten, zurückzukehren.
Wenn er nicht um ihretwillen käme, so doch
wenigstens um des Kindes willen, das sie erwartete. Sie würde ihm sagen, dass
sie ihn brauchte. Und vielleicht sogar, dass sie ihn liebte.
»Joana, wo ist eigentlich der unglückselige
Brief geblieben, den du in Pedros Unterlagen gefunden hast? Du weißt schon, der > Beweis < .«
Joana verzog das Gesicht zu einer zerknirschten
Grimasse. Sie straffte die Schultern und sah Vitória ernst an. »Ich habe ihn
nicht mehr.«
»Was soll das heißen, du hast ihn nicht mehr? Du
kannst doch nicht einfach meine alten Briefe wegwerfen, schon gar nicht solche,
die nicht an dich adressiert waren!«
»Ich habe ihn nicht weggeworfen.« Joana
schluckte. »Sei mir jetzt bitte nicht böse, Vita. Ich habe mir die Entscheidung
wirklich nicht leicht gemacht, das kannst du mir glauben. Aber nach reiflicher Überlegung
bin ich zu dem Schluss gelangt, dass man diesen Brief seiner eigentlichen
Bestimmung zuführen musste.«
Vitória sah ihre Schwägerin ungläubig an.
»Ja, Vita. Ich habe ihn an León geschickt.«
»Ohne mein Wissen, ohne mein Einverständnis? 0
Joana, wie konntest du nur?«
»Du hättest mir ja doch untersagt, den Brief
weiterzuleiten. In deiner unerhörten Sturheit hättest du ihn womöglich
zerrissen und dich damit eines äußerst beredten Zeugnisses deiner – und Leóns
Unschuld entledigt. Aber wie kommst du eigentlich auf einmal darauf? Was willst
du plötzlich mit diesem Brief?«
»Himmel, Joana! Ich will damit die Ritzen im Gebälk
der senzalas ausstopfen, was sonst?«
»Siehst du.«
Vitória hob verächtlich die Augenbrauen. Joana
war wirklich manchmal so fantasie- und humorlos wie ein Melkschemel.
Wenige Tage nach diesem Gespräch war Joanas
Schuldgefühl über ihr eigenmächtiges Eingreifen abgeflaut und Vitórias Unmut über
Joanas Einmischung verflogen. Die beiden Frauen saßen wieder einträchtig im
Salon, die eine konzentriert Maschen für ein Taufkleid aufnehmend, die andere über
eine Blumenstickerei gebeugt. Ein ereignisreicher, befriedigender Tag lag
hinter ihnen, an dem sie ausgebesserte Zäune inspiziert, im Kräutergarten
gearbeitet und eine bestellte Büchersendung aus Rio erhalten hatten. Die
Abrantes waren vorbeigekommen, um für Dionísio Abrantes' Kandidatur für das Bürgermeisteramt
zu werben, und Ines' Verlobter, der gerne ebenfalls auf Boavista leben würde,
hatte sich für einen Posten als Hufschmied und Pferdeknecht vorgestellt. Am frühen
Abend hatten Joana und Vitória gebadet und sich, beide mit feuchtem Haar, von
Elena die Haarspitzen schneiden lassen. Es war Vitória vorgekommen, als sei
Joana ihre Schwester, als hätten sie schon seit Kindertagen nebeneinander Platz
genommen und gemeinsam diese Prozedur erlebt. Sie hatten dabei gekichert wie
junge Mädchen, und für einen Augenblick waren Witwenschaft und Scheidung,
Verantwortung und Alltagsbelastungen vergessen. In Vitórias Bauch hatte sich
ihr Baby mit kräftigen Fußtritten Bewegung verschafft, und erstmals gestattete
Vitória ihrer Schwägerin, die Hand auf ihren gewölbten Bauch zu legen und die
Lebenszeichen des kleinen Wesens zu ertasten. Wie viel lieber wäre es ihr
gewesen, León hätte dasselbe getan! Eigentlich sollte er es sein, der mit ihr
das Wunder bestaunte, das sie gemeinsam geschaffen hatten, sollte er derjenige
sein, der sanft ihren Bauch berührte und sie verzückt anlächelte. Ach, denk
nicht wieder daran, rief sich Vitória zur Ordnung – und fand schnell wieder zu
ihrem hart erkämpften Gleichmut zurück.
»Dieses Blumenmuster ist zu kompliziert für
mich. Ich glaube, ich sticke lieber ein paar einfache Motive im Kreuzstich auf
dieses Hemdchen.«
»Wieso? Es sieht doch schon ganz gut aus«,
befand Joana nach einem kurzen Seitenblick auf Vitórias Handarbeit.
»Aber wenn ich in dieser Geschwindigkeit
weitermache, wird das Hemdchen erst zum zehnten Geburtstag des Kindes fertig.«
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür enthob Joana
einer Antwort. Beide Frauen blickten auf.
»Ja, Ines, was gibt es denn noch?« Vitória
wunderte sich über die späte Störung.
»Es ist Besuch für Sie gekommen, Sinhá Vitória.«
»Nanu. Ich habe es
Weitere Kostenlose Bücher