Ana Veloso
hatten sie
Bekanntschaft geschlossen, und über deren sporadische Besuche waren Joana und
Vitória ebenso erfreut wie über die Stippvisiten des jungen Padres, das
Eintreffen ihrer Bestellungen aus Vassouras oder die Postkutsche, die sich höchstens
einmal in der Woche hierher verirrte. Ihr, Vitória, war ja kaum noch jemand
geblieben, mit dem es sich zu kommunizieren lohnte. Ihren Mann hatte sie ins
Exil getrieben, ihren Bruder verloren, ihre Eltern auf größtmögliche Distanz zu
sich gebracht. Freunde hatte sie kaum. Gelegentlich schrieb Aaron ihr, doch
seine Briefe klangen nie wie die eines guten Freundes, sondern wie Geschäftsberichte.
Joana dagegen erhielt etwas regelmäßiger Post.
Dank der Briefe ihrer Eltern, ihrer Freunde und ihres Bruders waren sie hier
auf Boavista relativ gut unterrichtet über das, was in Rio vor sich ging.
Loreta Witherford hielt ihre Freundin immer auf dem Laufenden über das
gesellschaftliche Leben in der Hauptstadt, Joanas Bruder schrieb ihr
seitenlange Berichte über seine bizarren Flugexperimente, und Aaron unterhielt
Joana gern in vergnüglichem Plauderton mit den kleinen Abenteuern, die er und
ihre gemeinsamen Freunde in der Großstadt tagtäglich zu bestehen hatten.
Der letzte Brief Aarons an sie, Vitória, war
gleichzeitig mit dem für Joana eingetroffen, und erst im direkten Vergleich war
Vitória aufgefallen, wie unpersönlich ihr Exemplar neben dem von Joana war.
Joana erzählte er eine lustige Anekdote über seine Haushälterin, die er dabei
beobachtet hatte, wie sie besonders fette bitú-Ameisen im Hof fing, die sie
sich anschließend briet. Vitória dagegen berichtete er in nüchternem Ton über
irgendeine interessante Anlagemöglichkeit. Sie, Vitória, war doch die engste
Vertraute Aarons gewesen, nicht Joana! Ihren Geschäften hatte er seine Freizeit
geopfert, ihr hatte er schöne Augen gemacht, mit ihr hatte er abends Schach
gespielt! Aber gut, versuchte Vitória sich ihren kleinen Anflug von Neid wieder
auszureden, Joana als trauernde Witwe bedurfte der Aufmunterung mehr als sie
selber. Und Aaron würde sich selbstverständlich denken können, dass sie sich
seine Briefe gegenseitig vorlasen – da brauchte er ja nicht alles zweimal zu
schreiben. Oder verhielt es sich vielleicht so, dass sich zwischen Aaron und
Joana eine keusche Romanze anbahnte? Ach was, nicht so bald nach Pedros Tod!
Aber wer weiß, irgendwann einmal, wenn Joanas Trauer sich erschöpfte, wenn
Aarons Gefühle für sie selber erloschen ... eigentlich würden die beiden ein
stimmiges Paar abgeben.
Vitória zwang sich, den Gedanken an eine mögliche
Verbindung zwischen Aaron und Joana weit von sich zu schieben. Sie wollte nicht
durch das zukünftige Glück anderer, und wenn es nur auf Einbildung ihrerseits
beruhen sollte, an ihre eigene Einsamkeit erinnert werden. Ob sie sich jemals
wieder verlieben würde? Ob es irgendwo auf der Welt einen Mann gab, der León
das Wasser reichen konnte?
Wie hatte sie es zulassen können, dass sie sich
so entfremdeten, warum hatte sie nicht um ihn gekämpft? Wie hatte es kommen können,
dass sie sich eingeredet hatte, León nicht zu lieben? Himmel, er war der klügste,
attraktivste, charmanteste, umwerfendste Mann, den sie je kennen gelernt hatte!
Und sie sehnte sich nach ihm, wie man sich überhaupt nur nach jemandem sehnen
konnte. Je länger er fort war, desto mehr verblassten die Erinnerungen an die
unschönen Episoden ihres Zusammenlebens, und desto mehr Bedeutung gewannen die
schönen. In manchen Nächten lag Vitória im Bett noch stundenlang wach, lauschte
der Stille, die sich auf Boavista herabgesenkt hatte, und berauschte sich an
den farbenprächtigen, lebensfrohen und erotischen Szenarien, die sich vor ihrem
geistigen Auge in einer betörenden Sinnlichkeit wiederholten, wie sie sie in
der Realität wahrscheinlich nie besessen hatten. Ihre erste, heimliche
Kutschfahrt in Rio, ihr Rendezvous am Mandelbaum, ihr romantischer Ausflug in
den Tijuca-Wald – ah, was hatten sie für herrliche Momente genossen!
Und darauf sollte sie für den Rest ihres Lebens
verzichten, weil sie ihren Seelenfrieden über ihre Liebe stellte? Nein! Lieber
ließ sie sich hundertmal am Tag von León aus der Fassung bringen, ließ sie sich
von ihm ärgern, küssen, beschimpfen und lieben, als dass sie die nervtôtende
Monotonie eines Daseins als Strohwitwe weiter erduldete. Sollte ihr Leben etwa
wie ein harmloser Bach vor sich hin plätschern, nachdem sie das Tosen der
Meeresbrandung
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