Ana Veloso
Vitória durfte sich nur bis auf Sichtweite vom
Haus entfernen, etwa um im Kräutergarten oder in den senzalas nach dem
Rechten zu sehen. Zwei Wochen ihrer Strafe hatte sie bereits abgebüßt, aber die
verbleibenden vierzehn Tage erschienen ihr wie eine Ewigkeit. Die Zeit verging
von Tag zu Tag langsamer, und das furchtbare Wetter vermochte Vitórias trübe
Laune nicht gerade zu heben.
Den Kontakt zur Außenwelt hielt sie durch
Zeitungslektüre. Immer wenn sie einen Artikel von León entdeckte, schlug ihr
Herz ein bisschen schneller. Und als sie die Kritik des Stücks las, zu dem León
sie eingeladen hatte, hätte sie vor Wut schreien mögen. Es war zu einem
handfesten Eklat gekommen, als die göttliche Marquez mitten in der Darbietung
innegehalten hatte, um einen prominenten Bewunderer, der im Publikum mit seinen
Rufen für Unruhe sorgte, des Saals zu verweisen. Das musste ein herrliches
Durcheinander gewesen sein – und sie, Vitória, hatte es verpasst!
Als beinahe ebenso schlimm empfand sie es, dass
ihr sogar der lokale Klatsch verwehrt blieb. Zwar gab Vitória nicht viel auf
Gerede, aber Spaß machte es ihr dennoch, über die hölzernen Annäherungsversuche
der jungen Männer oder die Garderobe der Frauen zu lästern. Zu gern hätte sie
miterlebt, wie sich Isabel Souza als frischgebackene Ehefrau von Rubem Araújo
aufführte, der als einer der notorischsten Herzensbrecher der Region bekannt
war. Und wie sehr bedauerte sie, nicht mit Rogério zu tanzen! Sogar das
Gestammel von Edmundo fehlte ihr, die giftigen Blicke der Witwe Almeida, die
Heimlichtuerei der jüngeren Mädchen, das angeberische Gehabe von Eufrásia, die,
das hatten ihr die Eltern erzählt, sich bereitwillig den Hof von Arnaldo machen
ließ. Das war aber auch schon alles, was Dona Alma und Senhor Eduardo zu erzählen
bereit waren.
»Wie haben Sie denn meine Abwesenheit erklärt?
Doch nicht etwa mit einer Lüge?«, fragte Vitória ihre Eltern mit ironischem
Unterton, aber ihr Vater konterte geschickt.
»Nein, liebe Vita, wir waren ganz ehrlich und
haben erzählt, dass du krank seist. Und das ist ja auch so, nicht wahr? Du
leidest an einem schlimmen Mangel an Respekt und Wahrheitsliebe sowie an
fehlgeleitetem Tatendrang. Da das alles ansteckend ist, haben wir deinen
Freunden und Bekannten von Besuchen abgeraten.«
»Oh, wie fürsorglich von Ihnen. Und welche
Medizin halten Sie zur Heilung für angemessen?«
»Da weder Hausarrest noch Arbeit bisher viel
bewirkt haben, könnte eine Beichte helfen – Padre Paulo hat uns erzählt, dass
du dein Gewissen schon länger nicht mehr bei ihm erleichtert hast.«
»Pai, ich
beichte jeden Sonntag. Ich frage mich, was in Gottes Namen der Mann von mir hören
will. So viele Sünden kann ich in meiner Haft schließlich nicht begehen. Und überhaupt:
Wieso erzählt er euch vom Inhalt meiner Beichten? Das ist doch unerhört!«
Insgeheim gab Eduardo da Silva seiner Tochter Recht. Andererseits war er froh,
dank Padre Paulo über sämtliche größeren und kleineren Vergehen der Leute auf
Boavista unterrichtet zu sein. Der Pfarrer kam jeden Sonntag, um in der
hauseigenen Kapelle eine Messe für die Familie, die weißen Angestellten und die
Haussklaven zu lesen. Die Feldarbeiter sammelten sich außerhalb der Kapelle zur
Andacht. Vor der Messe nahm Padre Paulo jedem, der dies wünschte, sowie jedem,
der an der Kommunion teilzunehmen gedachte, die Beichte ab. Vitória ließ sich
jedes Mal verzeihliche Missetaten einfallen, um den Geistlichen
zufriedenzustellen, kleine Unhöflichkeiten etwa oder Momente der Eitelkeit und
des Stolzes. Vielleicht sollte sie sich diesmal einfach alles von der Seele
reden, auch auf die Gefahr hin, dass der Pfarrer es ihrem Vater brühwarm
weitererzählen würde. Ja, das wäre sogar der ideale Weg, ihre Eltern all das
wissen zu lassen, was sie ihnen niemals von Angesicht zu Angesicht hätte sagen
können. Gleich übermorgen, am Sonntag, würde sie dem Padre alles beichten, was
sie beschäftigte. Und zwar schonungslos. Vitória sah im Geiste schon Padre
Paulos besorgtes Gesicht vor sich. Es erfüllte sie mit Genugtuung. Den
Gedanken, dass sie sich damit einer weiteren Sünde schuldig machte, verdrängte
sie ebenso schnell, wie er aufgeblitzt war.
Die Kapelle war, anders als in den meisten
anderen Fazendas der Region, in einem separaten Gebäude untergebracht, das
neben der casa Brande lag. Von außen wirkte sie wie eines der vielen
kleineren Nutzgebäude, die, keiner bestimmten Anordnung
Weitere Kostenlose Bücher