Ana Veloso
musst die Pflichten, die deine Eltern dir
auftragen, freudig übernehmen.«
Vitória stöhnte innerlich auf. Wie konnte ein
Geistlicher, der doch auch die Nöte jüngerer Menschen kennen sollte, so wenig
Einfühlungsvermögen besitzen? Sie begann zu schwitzen, obwohl es in der Kapelle
kühl war. Der Beichtstuhl erschien ihr auf einmal wie ein Gefängnis. Er roch
schwach nach Holzpolitur und Weihrauch. Auch hatte sie den Eindruck, in Padre
Paulos Atem eine Alkoholfahne ausmachen zu können.
»Aber hat mein Vater denn nicht auch die
Pflicht, mir einen Ehemann zu suchen? Er kann mich doch nicht ewig daheim
behalten, nur weil ich so tüchtig bin.«
»Vorsicht, Kind. Du machst dich des Hochmuts
schuldig.«
»Verzeihung, Padre.«
»Erzähl weiter: Was hat denn die Suche nach
einem Ehemann mit dieser Reise zu tun, die du nicht machen durftest?«
Zum Glück sah der Padre nicht, wie sich Vitórias
Wangen mit einem glühenden Rot überzogen. Aber gut, sie wollte ehrlich sein,
denn ihre Beichte machte ja nur Sinn, wenn sie all ihre Geheimnisse offen
legte.
»Padre Paulo, ich bitte Sie! Als ob Sie das
nicht genau wüssten. Wahrscheinlich hat es sich schon im ganzen Vale
herumgesprochen, dass ich zu diesem demütigenden Hausarrest verdonnert wurde,
weil ich in Rio einen Mann treffen wollte. Er hatte mich zu einer
Theaterpremiere eingeladen.«
»Wusste Senhor Eduardo, weshalb du nach Rio
wolltest?«
»Nein, ich ... ich habe ihn belogen. Meine Eltern sollten nichts von
diesem Verehrer wissen. Er ist, nun ja, also in ihren Augen ist er keine
standesgemäße Partie.«
»Er hat also nicht um deine Hand angehalten?«
»Natürlich nicht. Wir kennen uns ja kaum.«
»Trotzdem wolltest du ihn heimlich treffen.«
»Ja.«
»Ihr seid euch also noch nicht ... näher
gekommen?«
»Nein. Leider nicht. Aber ich habe davon geträumt.«
Vitória hörte, wie der Padre scharf die Luft
einsog. »Unreine Gedanken zu haben, ist genauso schlimm, wie sie auszuführen.«
»Nun
ja, Padre, hätte ich nach Rio reisen dürfen, wäre wahrscheinlich gar nichts
passiert, was Sie als schlimm empfinden. Doch gerade dadurch, dass mir die
Reise verboten wurde, drehen sich meine > unreinen < Gedanken nur noch um
diesen Mann.«
»Vita, du musst ihn dir aus dem Kopf schlagen. Es ist León
Castro, nicht wahr? Ich habe ihn erlebt. Bei einer Rede, die er vor ein paar
Wochen in Conservatória hielt, habe ich sein wahres Gesicht gesehen. Er
vertritt Überzeugungen, die du nicht teilen kannst, er treibt sich mit losen
Frauenzimmern herum, er macht sich mit den Negern gemein. Deine Eltern wollen
nur dein Bestes, glaub mir.«
»Ich glaube nicht, dass Sie oder meine Eltern
wissen, was das Beste für mich ist. Außerdem glaube ich, dass mein Vater León
Castro sogar ganz sympathisch findet. Seine Strafe bezieht sich ausschließlich
auf die Lügen, deren er mich überführt hat, was ihm übrigens genau einen Tag
nach dieser Veranstaltung in Conservatória gelang. Ich war ebenfalls dort. Und
falls es Sie beruhigt: León wollte mir anschließend seine Aufwartung machen –
und ich habe mich verleugnen lassen.«
»Das war klug, mein Kind.«
»Nein, es war die größte Dummheit meines Lebens.
Ich hatte mich so nach ihm gesehnt. Und dann taucht er endlich auf, und ich
lasse mich von meiner Eifersucht dazu hinreißen, ihn abzuweisen.«
Vitória erinnerte sich lebhaft an den Tag. León
Castro war, nur eine Woche vor ihrem geplanten Treffen in Rio, im Rahmen einer
Vortragsreise nach Conservatória gekommen, ein Städtchen, das nordwestlich von
Vassouras lag. Auf dem Hauptplatz war eine Tribüne errichtet worden, auf der
verschiedene Politiker ihre Meinung zur Abolition, zur Abschaffung der
Sklaverei, kundtaten. Als León an das Rednerpult trat, entstand im Publikum ein
kleiner Tumult: Seine Anhänger jubelten und applaudierten, seine Gegner buhten
ihn aus. Es kam zu einem Handgemenge, bei dem, das hatte Vitória deutlich
gesehen, sogar der stets korrekte Senhor Leite seinen Nachbarn wutentbrannt am
Kragen griff und anschrie. Die Polizei musste für Ordnung sorgen, bevor León,
dank seiner Artikel im »Jornal do Commércio« einer der bekanntesten
Sklavereigegner des Landes, sich der Aufmerksamkeit des Publikums sicher sein
durfte. Vitória konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass León auffallend
oft zu ihr hinübersah, dabei konnte er sie gar nicht erkannt haben. Sie stand
im Schatten am äußeren Rand des Platzes und trug einen Hut mit Schleier
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