Ana Veloso
Spießrutenlauf
für Félix. Jeder auf der Fazenda schien von seinem Besuch bei Lili zu wissen.
Die jungen Mädchen kicherten, wenn er vorbeikam, und die Jungen, die noch nicht
alt genug für Lilis Lektionen waren, bestaunten ihn. Die älteren Männer bedachten
ihn mit Sprüchen, die wohl lobend gemeint, Félix aber peinlich waren. »Was dem
Jungen an Stimme fehlt, hat er in der Hose«, sagte einer, und Félix fragte
sich, woher er das wissen wollte. Ob Lili alle Details ihrer Begegnung
weitererzählt hatte? Lauro quetschte ihn nach Einzelheiten aus, doch mit Gebärden
ließ sich das Ganze nur unvollkommen wiedergeben. »Ach«, sagte Lauro, »am
besten gehe ich selber auch einmal zu Lili. Dann weiß ich ja Bescheid. Aber sie
will fünfhundert Reis! So viel Geld muss man erst mal haben. Für mich würden
die Alten keinen Vintém herausrücken.«
Der Mangel an Privatsphäre bedrückte Félix. Auf
Boavista hatte sich immer ein Weg gefunden, unbemerkt von den anderen ein Schläfchen
am Flussufer zu halten oder einige Lebensmittel aus der Küche zu stibitzen.
Hier dagegen war jede Sekunde seines Lebens öffentlich. Beim Unterricht, auf
den Feldern, in der Kammer, nie war er allein. Zudem durfte er sich nur auf dem
Gelände der Fazenda frei bewegen, während größere Ausflüge, etwa ins nahe gelegene
Dorf Três Corações, strikt verboten waren. Die Versuchung, sich dort in eine
Schänke zu setzen und sich zu betrinken, war für viele einfach zu groß – und
damit die Gefahr, sich der gelungenen Flucht zu brüsten. Einzig die Leute, die
schon länger hier waren, durften Dona Doralice oder Gregório ab und zu ins Dorf
begleiten, wenn diese dort irgendwelche Besorgungen zu erledigen hatten. Und je
mehr er sich eingeengt und beobachtet fühlte, je weniger er allein sein durfte,
desto einsamer wurde Félix. Er hatte Heimweh.
Umso aufgeregter war er, als eines Tages León
Castro nach Esperança kam. Ein Freund seiner Herrschaften! Er würde ihm erzählen
können, wie es um Boavista stand, wie die Familie da Silva seine Flucht
aufgenommen hatte, was die anderen Sklaven so machten. Doch León nahm den
Jungen, der auf dem Hof seine Ankunft beobachtete und freudig winkte, zunächst
gar nicht zur Kenntnis. Er schwang sich mit einem Satz von seinem Pferd und
hatte es eilig, ins Haus zu kommen. Er nahm immer zwei Stufen der Treppe auf
einmal, und als er vor der Haustür der casa Brande angelangt war, zog er
ungeduldig die Glocke. Dona Doralice öffnete ihm, dann fielen sich beide in die
Arme. Félix wunderte sich über die Nähe zwischen den beiden. Welcher Weiße würde
schon in aller Öffentlichkeit eine Farbige so herzlich an sich drücken?
Erst am nächsten Tag hatte Félix Gelegenheit,
Neuigkeiten von León zu erfahren. León hatte ihn zu sich gerufen. Er saß am
Schreibtisch des dono, den Félix zwar nie zu Gesicht bekommen hatte, der
aber trotzdem allgegenwärtig war. Oswaldo Drummond, Schwiegersohn des mächtigen
Senhor Azevedo, und seine Frau Beatrice waren die Besitzer dieser Fazenda,
lebten aber auf einem anderen Gut viele Meilen landeinwärts. Doch das gab León
noch lange nicht das Recht, sich an Senhor Oswaldos Schreibtisch zu setzen. Félix
wunderte sich über diese Respektlosigkeit, ließ sich aber nichts anmerken.
»Setz dich«, forderte León ihn auf. »Ich höre,
du hast dich gut hier eingelebt.«
Félix nickte.
»Wie lange bist du nun schon hier? Zwei, drei
Monate?«
Fast vier, gab Félix ihm zu verstehen.
»Wie viel ist dreizehn mal fünfundvierzig?«
Félix dachte einen Augenblick nach und zeigte
ihm erst fünf, dann acht, dann wieder fünf Finger.
»Sehr gut. Und wie schreibt sich dein Name?« León
reichte ihm ein Blatt Papier und einen Stift.
Félix Silva, schrieb Félix in krakeligen Lettern
auf den Zettel. Dann fügte er hinzu: »Wie geht es auf Boavista?«
León staunte. »Das ist fantastisch, Junge. So
schnell hat bisher noch kaum jemand Schreiben gelernt. Tja, um deine Frage zu
beantworten: Ich war selber schon länger nicht mehr dort, höre aber von Pedro,
dass es allen gut geht. Hast du Heimweh?«
Félix kniff die Lippen zusammen. Er wollte
nicht, dass man ihn für sentimental hielt. Doch schließlich nickte er.
»Das ist normal. Aber das wird sich geben. Wenn
du erst einmal die echte Freiheit gekostet hast, dann wirst du sie nie wieder
aufgeben wollen.« Er hielt einen Moment inne und betrachtete Félix
nachdenklich. »Du bist jung genug, um die Freiheit zu lernen. Weißt du, viele
der
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