Ana Veloso
morgen wiederholen, in einem
anderen Stadtteil. Vielleicht ziehen wir dann durch Glória.«
»Das wäre wunderbar.« Vitória meinte es so.
Selten hatte sie sich mit ihrer Mutter so wohl gefühlt wie an diesem Tag, und
sie wollte nur zu gern diese harmonische Stimmung auskosten.
Vor dem Haus des comissionistas Ferreira
sprang Vitória mit einem Satz aus der Kutsche. Sie winkte ihrer Mutter nach,
bis diese um die Ecke fuhr. Dann sah sie durch die Schaufensterscheibe von
Ferreiras Geschäft. Mit einer Hand schirmte sie dabei die Augen ab, um im
Halbdunkel des Ladens überhaupt etwas erkennen zu können. Er war leer, auch am
Empfangstresen stand niemand. Bis zu ihrer Verabredung mit Pedro hatte sie noch
mindestens eine Stunde Zeit. Zeit, die sie sinnvoller nutzen konnte als mit dem
Warten auf ihren Bruder oder dem Geplauder mit einem seiner Kollegen. Denn
sobald sie den Laden beträte und die Klingel über der Tür auslöste, würde
unweigerlich jemand herbeieilen und sich ihr widmen müssen. Allzu oft bekam man
hier keine echte Sinhazinha zu Gesicht, und die Tochter von Eduardo da Silva
verdiente besondere Aufmerksamkeit. Sie hätte noch Glück, wenn es nicht sogar
Senhor Fernando höchstpersönlich war, der sich für ihre Unterhaltung zuständig
fühlte. Vitória konnte seine liebedienerische Art nicht leiden, und sein Hängebackengesicht
deprimierte sie.
Sie schaute sich nach allen Seiten um. Nein,
niemand hatte von ihr Notiz genommen. Schnell ging sie weiter, um an der nächsten
Kreuzung links abzubiegen. Ziellos lief sie die Straße entlang, zwar von der
Hitze und dem Likör leicht benommen, doch in einem Hochgefühl, wie sie es schon
lange nicht mehr gespürt hatte. Niemand kannte sie, niemand interessierte sich
für sie. Die Leute schlenderten an ihr vorbei, als gehöre sie dazu. Sie hielten
sie, Vitória Catarina Elisabete da Silva e Moraes, für eine Carioca! Natürlich,
nur Mädchen aus der Provinz bummelten in Begleitung ihrer Mütter oder ihrer
alten schwarzen amas durch die Stadt. Moderne Städterinnen erregten kein
Aufsehen mehr, wenn sie allein unterwegs waren.
Vitória hatte nur wenig Geld dabei. Im Vale do
Paraíba kannte man sie, dort brauchte sie in keinem Geschäft bar zu zahlen. Und
hier hätten immer andere für sie bezahlen sollen, ihre Mutter oder ihr Bruder.
An größere Einkäufe war also nicht zu denken. Aber das machte nichts. Vitória
begnügte sich mit dem Ansehen der Auslagen. In einem Schuhgeschäft probierte
sie ein Paar Stiefel an, die an ihren zierlichen Füßen vorzüglich zur Geltung
kamen, die sie sich aber nicht leisten konnte. In einer französischen Parfümerie
bewunderte sie die riesige Auswahl an feinen Seifen. Sie ließ sich mit
verschiedenen Duftwässerchen besprühen, beschied den Verkäufer aber schließlich
bedauernd mit der Ausrede, dass sie nicht in der Lage sei, sich für ein
bestimmtes Parfüm zu entscheiden. An einem Straßenstand hätte Vitória beinahe
ein duftendes, in Öl ausgebackenes Teigröllchen gekauft, besann sich aber des
anstehenden Essens mit Pedro und verzichtete.
Schließlich zog es sie in eine Buchhandlung,
deren Sortiment sie begeisterte. Der Laden war größer als die Livraria
Universal in Vassouras und das Geschäft der Schwestern Lobos in Valença
zusammen! Es gab hier alle Arten von Bildbänden, Fachliteratur für sämtliche
akademischen Gebiete, italienische Poesie, deutsche Romane, französische
Dramen, portugiesische Geschichtsbücher, englische Politikbücher, amerikanische
Novellen – kurz, alles, was das bibliophile Herz begehrte. Nicht dass Vitória
eine große Leserin gewesen wäre, dafür fehlte ihr auf Boavista oft die Muße.
Aber die überwältigende Auswahl, der Duft des Papiers, die imposante Fülle des
zwischen Buchdeckeln gesammelten Wissens beeindruckten sie. Sie blätterte in
den Seiten einiger Bände, die auf einem Tisch in der Mitte des Verkaufsraums
ausgelegt waren, als ein Verkäufer auf sie zukam.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Oh, ich ... nein, nichts Bestimmtes.«
Da der Verkäufer keine Anstalten machte, sich zu
entfernen, fügte sie hinzu: »Vielleicht einen aktuellen Roman.«
»Eher ein Werk des französischen Naturalismus
oder vielleicht etwas Romantischeres?«
Vitória hatte keine Ahnung, was sie sich unter
französischem Naturalismus vorzustellen hatte, aber so, wie der Buchhändler es
sagte, klang es irgendwie anstößig. Andererseits: Was machte es schon, wenn sie
hier, wo niemand sie kannte, nach
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