Ana Veloso
der eine solche
Vorzugsbehandlung erfahren hat, einfach so flieht. Und noch viel weniger kann
ich mir vorstellen, dass er dann nicht erwischt wird.«
»Ja, das ist allerdings
sehr sonderbar. Die schlauesten Männer wurden schon wieder eingefangen, und ausgerechnet
dieser grüne Junge soll es schaffen?«
»Glaubst du nicht auch, dass in Wahrheit etwas
ganz anderes dahintersteckt? Ich fürchte, er ist tot. Vielleicht ist er in den
Fluss gefallen, vielleicht wurde seine Leiche auch verscharrt, was weiß ich. Aber
jemand wie er kann doch nicht mir nichts, dir nichts von der Bildfläche
verschwinden. Und die Wahrscheinlichkeit, ihn nach all dieser Zeit wieder
aufzuspüren, sinkt von Tag zu Tag.«
»Wenn er noch lebt, wenn ihm wirklich die Flucht
gelungen ist, dann wird er hoffen, dass wir ihn niemals lebend in die Finger
kriegen. Er weiß, was mit erwischten Flüchtlingen passiert.«
»Die Vorstellung ist grauenhaft. Lass uns von
etwas anderem reden.«
Doch das Bild eines ausgepeitschten und zu Tode
geängstigten Jungen nistete sich in ihrem Kopf ein. Während des Essens, während
der Rückfahrt nach São Cristóvão und sogar noch, als sie > Dein Aug' ist mein
Himmel < aufschlug, verharrte es dort, blass nur und dennoch intensiv genug,
um ihrer guten Laune einen Dämpfer zu verpassen. Erst als Vitória in einen
unruhigen Schlaf fiel, wurde das Bild von den grellen Farben ihres Traums verdrängt.
Sie wachte auf, als die Sonne tief am Himmel
stand. Es musste schon nach fünf sein. Warum nur hatte niemand sie geweckt? Vitória
warf sich einen Hausmantel über und zog an dem Seil, das über ihrem Bett
angebracht war und das die Klingel in der Küche auslösen würde. Wenig später
kam Maria do Céu. Vitória bat das Mädchen, ihr einen Kaffee aufs Zimmer zu
bringen.
»Was ist mit meinem Kleid? Ist es schon gebügelt?
Und der neue Hut – Dona Alma hatte ihn dabei, bring ihn mir bitte auch herauf.«
»Das Kleid hängt gebügelt in Ihrem Schrank, Sinhá
Vitória, und den Hut habe ich ebenfalls schon in den Schrank gelegt.«
»Du bist ein Schatz, Maria. Kannst du mir
nachher auch mit der Frisur helfen, oder sollte ich mich da lieber den
erfahrenen Händen deiner Mutter anvertrauen?«
»Ich mache Ihnen gern die Frisur. Mamãe steckt
sowieso Dona Alma das Haar auf und wird es zeitlich wohl nicht mehr schaffen,
sich auch um Sie zu kümmern.«
Als Maria do Céu mit dem Kaffee kam, saß Vitória
bereits am Frisiertisch und kämpfte sich mit der Bürste durch ihr langes,
dickes Haar.
Maria nahm ihr die Bürste ab und fuhr mit der
Prozedur fort. »Erzähl doch mal, mit welchen Leuten mein Bruder so verkehrt,
wen er hier zu Besuch hat.«
»Ach, eigentlich immer dieselben. Joana da Torre
ist oft da, manchmal in Begleitung ihres Bruders, Carlos da Torre. Sie wissen
schon, der verrückte Flieger. Außerdem ist João Henrique de Barros regelmäßig
hier, Aaron Nogueira natürlich, manchmal Floriano de Melo, ein Kollege Ihres
Bruders. Ab und zu kommen auch León Castro und seine viúva-negra.«
»Die > Schwarze Witwe < ? Wer ist das?«
»Sie haben noch nie von ihr gehört? Sie ist
Senhor Castros, ähm, Begleiterin. Jeder nennt sie viúva-negra, nicht
wegen ihrer Hautfarbe, die für eine Mulattin ziemlich hell ist, sondern weil
sie sich ausschließlich schwarz kleidet. Ich weiß nicht, ob sie wirklich eine
Witwe ist.«
»Aber sie hat eindeutig etwas von einer giftigen
Spinne, oder?« Vitória war die spitze Bemerkung spontan herausgerutscht, doch
unmittelbar danach hätte sie sich dafür ohrfeigen können. Maria do Céu
unterbrach das Bürsten für einen Augenblick und sah sie fragend im Spiegel an.
»Kennen Sie sie?«
»Aber nein, woher denn.«
»Sie hat wirklich etwas von einer giftigen
Spinne. Aber das merkt man erst, wenn man sie etwas näher kennen gelernt hat.
Auf den ersten Blick ist sie bezaubernd, äußerst charmant – und sie sieht
umwerfend aus.«
»Aha. Aber das ist ja völlig irrelevant. Erzähl
mir lieber von Joana.«
»Sie ist eine wahre Dame. Sie ist klug,
warmherzig, gerecht und großzügig. Sie ist die beste Frau, die Ihr Bruder hätte
finden können.«
»Wie sieht sie aus? Ich habe nur eine Fotografie
von ihr gesehen, die anscheinend nicht sehr vorteilhaft ist.«
»Nein, das Bild, das unten auf dem Schreibtisch
steht, wird ihr wirklich nicht gerecht. Sie ist natürlich nicht so eine Schönheit
wie Sie, aber sie hat ebenmäßige Züge, eine Alabasterhaut und warme Augen. Ich
glaube, sie wird Ihnen
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