Ana Veloso
einem anrüchigen Buch verlangte?
»Mir liegt mehr an dem Naturalistischen.«
Der Verkäufer bat sie, ihm zu einem Regal zu
folgen, das gleich am Eingang stand. So schlimm konnte der Naturalismus also
nicht sein, dachte Vitória, die wirklich verwerflichen Elaborate verstecken sie
normalerweise lieber in der hintersten Ecke.
Er reichte ihr ein Buch mit dem Titel »Germinal«
von Emile Zola. »Dieser Titel ist praktisch noch druckfrisch. Es gilt als Zolas
Meisterwerk und sorgt derzeit in Europa für Furore.«
Da Vitória der Name des Autors bekannt vorkam,
beschloss sie, das Buch zu nehmen. Im Vale würde sie ein so unerhörtes Buch,
eines, das »in Europa für Furore sorgt«, wahrscheinlich erst in ein paar Jahren
zu Gesicht bekommen. Vitórias Blick glitt über die anderen Titel in dem Regal.
Der Händler beobachtete sie und erklärte schließlich: »Hier haben wir die
sozialkritischen Autoren. Marx, Mill, Castro und so weiter.«
Vitórias Herz setzte einen Schlag aus. »Castro?«
»Ja, León Castros abolitionistische Theorien.
Seine Gedichtbände führen wir in einer anderen Abteilung.«
»Ach, ich wusste gar nicht, dass León Castro
auch Poet ist. Wo, sagten Sie, finde ich seine Lyrik?«
Auf dem stumpfen Parkettboden der Buchhandlung
machten Vitórias Absätze ein Geräusch, das in der Stille des so zeitentrückt
wirkenden Ladens viel zu laut war. Vor einem Regal, das bis zur vier Meter
hohen Decke reichte, blieb der Verkäufer stehen. Er rieb sich nachdenklich das
Kinn und starrte mit zusammengekniffenen Augen nach oben, bis er das Fach
ausgemacht hatte, in dem die Bücher von Castro waren. Dann zog er sich eine auf
Rollen gleitende Leiter heran und kletterte hinauf. Mit zwei dünnen Bänden
unter dem Arm kam er nach ein paar Sekunden wieder heruntergeklettert.
» > Dein Aug' ist mein Himmel < ist sein jüngstes
Werk«, erklärte der Verkäufer. »Bekannter ist allerdings > Über dem Mond < .«
Vitória hätte gern beide genommen. Aber nachdem sie im Kopf ihre spärlichen
Finanzen überschlagen hatte, stellte sie fest, dass ihr Bargeld außer für den
Zola nur für einen der beiden Gedichtbände reichen würde. Sie wusste sofort, für
welchen von beiden. Als sie den Laden verließ, nahmen ihr die Mittagssonne und
die stickige Luft fast den Atem. Mit ihrem sorgfältig eingeschlagenen Päckchen
unter dem Arm machte sie sich auf den Weg zum Hotel de France, das nicht weit
entfernt lag.
Pedro saß bereits an einem Tisch und winkte ihr,
als sie hereinkam.
»Wo hast du denn Mamãe gelassen?«
»Oh, sie war von unserem Bummel ganz erschlagen
und ist schon zurück nach São Cristóvão gefahren.«
»Und sie hat dich einfach so allein in der Stadt
zurückgelassen?«
»Pedro, jetzt benimm dich bloß nicht wie ein altertümlicher
Senhor.« Vitória erklärte ihrem Bruder, wie es dazu gekommen war und wie sie
die Zeit verbracht hatte.
»Und weißt du, es war herrlich! Nach
Herzenslaune durch die Straßen laufen zu können, ohne Rücksicht auf das Tempo,
die Befindlichkeiten oder die Vorlieben anderer nehmen zu müssen, ist einfach
grandios. Ich denke, dass ich meine kleine Erkundungstour nach unserem Essen
fortsetzen werde.«
»Vergiss es. Die Geschäfte schließen jetzt und
machen erst um vier wieder auf. Kein anständiger Mensch treibt sich jetzt
freiwillig draußen herum.«
»Na gut, dann mische ich mich eben unter die
unanständigen. Wird kaum jemand merken.« Vitória lachte, als sie das pikierte
Gesicht ihres Bruders sah.
»Nein, Pedrinho, keine Bange. Ich fahre brav
nach Hause und halte meinen Schönheitsschlaf. In Wahrheit bin ich nämlich auch
ein bisschen erschöpft.« In Wahrheit wollte sie natürlich nichts anderes, als sofort
in dem Gedichtband lesen, den sie vorhin erstanden hatte, aber das würde sie
niemandem, nicht einmal ihrem heiß geliebten Bruder, verraten.
»Was hast du denn Schönes gekauft?«, fragte der
und zeigte auf das Päckchen, das vor Vitória auf dem Tisch lag.
»Ach, nur zwei Romane. Liebesgeschichten, nichts
Besonderes. Frauenbücher, weißt du.«
Pedro sah Vitória forschend an, hakte aber nicht
weiter nach. Dass seine Schwester ein Interesse an seichter Literatur hatte,
war ihm neu.
Während des Essens sprachen sie über Pedros
Arbeit und über die Neuigkeiten auf Boavista. Besonders nachdenklich stimmte
beide, dass man Félix noch immer nicht aufgespürt hatte.
»Ich weiß nicht, Pedro, ich kann mir nicht
vorstellen, dass ein stummer 14-Jähriger, noch dazu einer,
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