Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
einfach.«
»Kotik, ich schätze dein Gespür sehr und zahle dir dafür einen Haufen Geld. Doch heute bete ich zu Gott, daß du Unrecht hast. Und denk daran, niemand – weder Damir noch Semjon – dürfen wissen, was wir beide über die Kamenskaja wissen. Sonst geraten sie nämlich in Panik und stellen weiß der Teufel was an. Damir ist eine Künstlernatur, ziemlich sensibel, wie alle Künstler tickt auch er ein bißchen anders, und das kann zu unangemessenen Reaktionen führen. Über Semjon brauchen wir gar nicht zu reden. Er ist ein glänzendes Organisationstalent, da gibt es nichts, aber vergiß nicht, daß er schon seit zehn Jahren als Schwerverbrecher gesucht wird und deshalb mit falschen Papieren herumläuft. Das heißt – zehn Jahre unter Dauerstreß, Tag für Tag. Er mag sich daran gewöhnt haben und es nicht mehr merken, doch so was staut sich an, und sobald die Situation brenzlig wird, kann er durchknallen, und dann begeht Semjon irgendeine Dummheit. Könntest du noch für ihn die Hand ins Feuer legen, falls er erfährt, daß nebenan eine vom Innenministerium sitzt?«
»Sie haben recht, das kann ich nicht.«
»Und ich genausowenig. Trotzdem, Kotik, frag dein Gefühl: Was macht diese Kamenskaja hier? Führt sie was gegen uns im Schilde?«
»Es scheint so, ja.«
»Na ja, was soll’s. Wir sind sowieso eine Nummer zu groß für die. Wie will die uns je . . .«
* * *
Es war fast zehn Uhr morgens, und Nastja Kamenskaja flezte immer noch im Bett herum. Der gestrige Tag hatte vielleicht so laufen müssen, dachte sie, trotzdem wäre es besser gewesen, sie hätte ihn anders verbracht. Von dem Nachtspaziergang mit Ismailow war ein unangenehmer Nachgeschmack zurückgeblieben, und Nastja versuchte zu ergründen wieso. Der Sachverhalt war klar: Er war nicht erst gestern angekommen, er war nicht auf kürzestem Wege mit Blumen und Geschenken direkt vom Flugzeug zu seiner alten Musiklehrerin geeilt. Er war schon viel früher angekommen, jedenfalls war er vorgestern schon hier, hatte im abgeschlossenen Gymnastikraum mit Katja rumgemacht und ihr das originelle Armband an seiner Uhr gezeigt. »Als sei es aus Kasliner Guß«, hatte Katja gesagt. Und gestern hatte Nastja dieses Armband gesehen, als er beim Spaziergang unter der Laterne auf seine Uhr gesehen hatte. Das mochte eine unbedeutende Kleinigkeit sein, doch aus dieser Kleinigkeit ergaben sich neue Fragen, und die wurden immer unangenehmer.
Falls Damir Ismailow sich zu seiner Lehrerin wie zu einem einsamen, unglücklichen Menschen verhielt, dann konnte er verständlicherweise keinesfalls zugeben, daß er nach seiner Ankunft im Sanatorium als erstes seine Freundin besucht hatte. Die Alte war erst am nächsten Tag dran gewesen, und auch dann erst am Abend. Bei diesem Drehbuch waren die Rollen folgendermaßen verteilt: Damir ein billiger Weiberheld, die Alte vertrauensselig und betrogen. Was Nastja nach diesem Drehbuch zu tun hatte, war ganz einfach: Regina Arkadjewna bemitleiden, Damir zum Teufel jagen.
Andererseits jedoch hatte der braunäugige Damir auf dem Spaziergang so begeistert erzählt, was für ein Genie Regina Arkadjewna sei, daß er ihr alle seine Arbeiten zeige, sie um Rat frage, weil ihm ihre Meinung viel bedeute. Das konnte kaum gelogen gewesen sein. Nastja erinnerte sich noch genau an die zufällig auf dem Balkon mitgehörten Worte der Alten und den ungewöhnlich scharfen Ton. Das war nicht der Ton einer Lehrerin. Das war eher der Ton eines Prüfers, eines Vorgesetzten. Doch falls die Beziehung zwischen Damir und Regina Arkadjewna geschäftlicher Natur sein sollte, bar aller Sentimentalitäten, wieso sollte er sie dann betrügen? War es in diesem Falle nicht egal, ob er einen Tag früher oder später im Sanatorium angekommen war, ob er als allererstes mit seinen Blumen und Geschenken zu ihr geeilt oder aber vorher noch durch ein paar Betten gehüpft war?
Gedankenversunken in ihre warme Decke gehüllt, achtete Nastja nicht auf das unangenehme kalte Gefühl, das sich einige Male in ihrem Bauch gemeldet hatte – ein sicheres Anzeichen dafür, daß ihr etwas Wichtiges aufgefallen war, über das sich nachzudenken lohnte. Es hatte sich nicht nur gemeldet, während sie an den gestrigen Abend dachte. Noch etwas anderes an dem gestrigen Tag hätte sie beunruhigen müssen. Etwas, das lange vor Damirs Auftauchen passiert war. Nein, meinte sie entschieden zu sich selbst, ich bin nicht bei der Arbeit, ich bin im Urlaub. Ich stecke einfach zu tief in diesem
Weitere Kostenlose Bücher