Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
hier. Erst heute habe ich gebucht. Heute morgen bin ich mit dem Flugzeug aus Nowosibirsk gekommen, unser Studio ist dort, ich habe zu Hause bei Regina Arkadjewna vorbeigeschaut, die Nachbarin sagte mir, sie sei im Sanatorium. Ich bin gleich hierher, und Regina gab mir den Rat, mich hier einzuquartieren. Na ja! Komfort, gutes Essen, und vor allem –Regina. Schließlich bin ich ja wegen ihr hier. Ich möchte ihr verschiedene Arbeiten zeigen.«
»Man hat den Eindruck, Sie studieren noch immer bei ihr«, meinte Nastja leise und hüllte sich enger in ihren Schal.
»Regina ist ein Genie«, sagte Damir sehr ernst. »Schreckliches Schicksal und eine bewunderungswürdige Standhaftigkeit. Seit ihrer Kindheit hinkt sie. Schönes Gesicht, wundervolles Haar, und dann über die ganze Wange dieses häßliche Muttermal. Sie war unglaublich talentiert. Die Fachleute hörten ihre Aufnahmen und waren außer sich vor Begeisterung. Doch sobald sie vor ihnen auf der Bühne stand – Schluß, aus. Schließlich waren das die vierziger Jahre. Der Künstler hatte eine Gottheit zu sein, man sollte sich in ihn verlieben können, dann würden die Leute auch in die Konzerte gehen. Wer kauft schon eine Karte, um eine Hinkende mit entstelltem Gesicht zu hören? Daß es darum ging, eine talentierte Pianistin spielen zu hören, daran wollte keiner denken. Wie denn auch, bei dem Prunkgehabe der Stalinzeit! Darum ließ Regina ihre Auftritte sein und widmete sich dem Unterricht. Und auch hier machte sie von sich reden. Genie ist eben Genie. Innerhalb von fünf Minuten, mit zehn Worten und drei Akkorden vermochte sie einem Schüler zu erklären, wozu andere Pädagogen Wochen, ja Monate brauchten. Wenn ein Kind auch nur das winzigste Fünkchen, das kleinste Körnchen Talent besaß, unter Reginas Führung entfaltete sich eine göttliche Blume. Die Kinder haben sie angebetet, die Eltern haben sie vergöttert. Und dann ein neuer Schlag! Man ließ sie nicht zusammen mit ihren Schülern nach Polen reisen, zu einem internationalen Wettbewerb für junge Musiker. Alle Teilnehmer kamen mit ihren Lehrern, aber die zwei aus unserer STADT kamen mit einem Instrukteur vom städtischen Parteikomitee.«
»O Gott, wie grauenhaft«, entfuhr es Nastja. »Aber warum nur?«
»Was glauben Sie? Hätte in den sechziger Jahren eine arme Lehrerin mit dem Nachnamen Walter auf eine Dienstreise ins Ausland fahren können? Nicht daran zu denken. Der Rest war noch schlimmer. Es fand sich ein Idiot, der es für nötig hielt, ihr zu erklären, weshalb die Schüler mit jemandem von der Partei fahren und nicht mit ihr. Da ihm jedoch der Mut fehlte, diese antisemitische Wahrheit auszusprechen, sagte er ihr, daß ihr Aussehen nicht repräsentativ sei. Beim Ankündigen der Teilnehmer auf Wettbewerben werde immer auch der Lehrer mit vorgestellt, der sich dann vor Publikum und Jury verbeugen müsse. Wie stellen Sie sich das vor, meinte er, mit Ihrem Bein und bei Ihrem Gesicht. . .«
»Und was war dann?«
»Danach setzte sich Regina ein Ziel und begann daraufhinzuarbeiten. Sie nahm zusätzliche Schüler, es war jetzt kein normales Geldverdienen mehr, sondern buchstäblich ein Geldraffen. Sie kam gar nicht mehr raus. Dann nahm sie endlich unbezahlten Urlaub und fuhr nach Moskau. Sie ließ sich ihr Gesicht operieren, nicht vollständig natürlich, aber hinterher war es bedeutend besser. Wenn man es nicht weiß, merkt man nichts. Mit dem Bein ging es böse aus. Vier Operationen hintereinander, irgendwie haben sie es nicht hinbekommen, vielleicht auch einen Fehler gemacht. Kurz gesagt, während Regina früher einfach bloß hinkte, geht sie seit der Behandlung am Stock. Sie war damals schon fast vierzig. Ihr Privatleben konnte sie vergessen. Hätte sie mehr Geld gehabt und wäre zehn Jahre früher zum Arzt gegangen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Sie hätte eine Familie haben können, und Kinder. Aber so ist sie einsam und allein.«
»Aber sie hat doch auch jetzt noch Schüler«, entgegnete Nastja, »und Sie haben sie ja auch nicht vergessen.«
»Machen Sie meinen Edelmut nicht größer, als er ist, Nastjenka. Meine Besuche gelten nicht der Lehrerin Regina, der ich bis an mein Lebensende dankbar bin, sondern der genialen Musikerin. Wenn Sie möchten, dann kommen Sie zu mir aufs Zimmer, und ich werde Ihnen demonstrieren, was ich meine.«
»Es ist schon spät«, protestierte Nastja leicht.
Damir lief bis unter eine Laterne, schob den Ärmel zurück und sah auf seine Uhr.
»Zwanzig
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