Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
schlecht zu verstehen, hier ist irgendein Hintergrundgeräusch. Was ist los?«
»Nastja«, sagte Leonid Petrowitsch mit erhobener Stimme, obwohl er ausgezeichnet zu hören war. Der Hinweis auf ›irgendein Hintergrundgeräusch‹ war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. »Hast du jemandem deine Wohnungsschlüssel gegeben?«
»Margarita Josifowna vom 7. Stock. Ich hab’ dir doch einen Zettel geschrieben, damit du es nicht vergißt.«
»Ich erinnere mich.« Die Stimme des Stiefvaters klang verärgert. »Ich erinnere mich, wie du den Zettel geschrieben und ihn auf den Kühlschrank gelegt hast, aber als ich ihn suchte, fand ich ihn nicht.«
»Wozu brauchst du die Schlüssel?« fragte Nastja mißtrauisch.
»Verstehst du, der Freund von Ljuda Semjonowa kommt auf Dienstreise hierher, Ljuda fragt, ob sie ihn nicht bei dir unterbringen kann. Sie weiß ja, daß du im Sanatorium bist.«
»Warum gerade bei mir?« Nastja bemühte sich, soviel Unzufriedenheit wie möglich in die Stimme zu legen. »Ljuda hat doch Beziehungen zum Hotel, soll sie ihn doch dort einquartieren.«
»Sei nicht so gemein, mein Kind. Sie lieben sich doch, und du weißt ja selbst, welche Vorschriften im Hotel herrschen. Hast du etwa Angst um die Wohnung?«
Nastjas Gedanken drehten sich in ihrem Kopf so schnell, daß sie sie kaum fassen konnte. Das war der entscheidende Moment des Gesprächs. Von ihm würde es abhängen, wie sich Jura Korotkow, der schon seit mehr als einem Jahr ein ernsthaftes Verhältnis mit Ljuda Semjonowa hatte, einer ehemaligen Zeugin in einer Mordsache, nach seiner Ankunft in der STADT verhalten würde. Was sollte sie antworten? Einfach sagen, daß es ihr nichts ausmache, und dabei auch den geheimnisvollen Besucher vergessen, der etwas in ihrem Zimmer gesucht hatte, ganz zu schweigen von den anderen kleinen Vorfällen?
»Ach, diese Ljuda«, sagte sie seufzend in den Hörer, »sie nützt es einfach aus, daß ich sie niemals im Stich lasse. Aber wenn es ihre bessere Hälfte erfährt, habe ich keine Schuld daran. Sie benimmt sich äußerst leichtsinnig, das solltest du wissen. Gut, gib ihr den Schlüssel. Ich habe nur daheim nicht aufgeräumt, ich bin so überstürzt weggefahren, daß vermutlich meine Unterwäsche in der ganzen Wohnung verstreut ist.«
»Was soll’s, das sind ja keine Fremden. In welcher Wohnung wohnt Margarita Josifowna?«
»Siebter Stock, Wohnung dreiundvierzig. Hat Mama für mich angerufen?«
»Nein. Erhol dich gut, meine Liebe. Danke dir. Ich küß dich!«
Nastja legte den Hörer auf und öffnete schnell die Tür zum Vorzimmer. Es war leer, das Licht war aus. Im Gang stand die Krankenschwester und rauchte. Die Zigarette war, wie Nastja feststellte, fast bis zum Filter geraucht, also war sie nicht frisch angezündet. Geruch von Rauch hatte sie im Vorzimmer nicht bemerkt. Wenn jemand das Gespräch abgehört hatte, dann sicher nicht Olja. Aber wer dann?
Nastja wandte sich zum Schreibtisch der Sekretärin, leicht strich sie mit der Hand über die einzelnen Telefonhörer. Keiner war leicht erwärmt, keiner rief den Verdacht hervor, daß er einige Minuten lang gehalten und erst vor zehn Sekunden aufgelegt worden war. Nastja konnte ihren Verdacht nicht überprüfen, deshalb beschloß sie, auf die Ankunft Korotkows zu warten.
* * *
»Die Person, die wir suchen, befindet sich derzeit im Sanatorium ›Doline‹. Alle Spuren weisen darauf hin. Erstens haben sie das Mädchen in das Schwimmbad des Sanatoriums gebracht, daran gibt es keinen Zweifel: die hohen Eisentore, die Wandfliesen, die eine Landschaft vortäuschen. In der STADT gibt es nur vier Schwimmbäder, von denen wiederum nur eines diese Kennzeichen aufweist. Zweitens verliert Schachnowitsch um die Zeit herum, als Swetlana ins Schwimmbad gebracht wird, die Möglichkeit, ganze Etagen zu kontrollieren. Er kann keine Informationen über die Bewohner der Zimmer 344 bis 358, 401 bis 412 und 509 bis 519 sammeln. Früher hatte er damit keine Schwierigkeiten. Das läßt auf organisierte kriminelle Handlungen schließen. Drittens benimmt sich die auf Zimmer 513 wohnende Frau Kamenskaja aus Moskau äußerst auffällig für jemanden, der sich im Sanatorium nur erholen will, gleichzeitig gibt es Gerüchte, daß sie im Innenministerium arbeite. Sie muß von diesen Gerüchten wissen, seltsamerweise tritt sie ihnen nicht entgegen. Es gibt Grund zur Annahme, daß es ihr angenehm ist, sich dahinter zu verstecken, und das macht ihr Verhalten noch verdächtiger. Viertens
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