Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
während sie das herabgefallene Laub mit ihren Füßen hochwirbelte.
»Jura, kannst du dich erinnern, was ich dir gestern über die Zeitungen erzählt habe?«
»Ganz allgemein, ja.«
»In unserem Land haben sich gerade wichtige Dinge ereignet. Wir erinnern uns beide, was darüber in der Presse stand. Die Abgeordneten und die Verwaltung haben sich gegenseitig bekriegt. Aber in der STADT herrschte eine sonderbare Eintracht, keinerlei Streit, vollständige Ruhe. Sofort nach der Niederschlagung des Putsches hat der Stadtsowjet seine Vollmachten friedlich niedergelegt, und es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte seine Vollmachten mit Worten ewiger Dankbarkeit abgegeben. Ich habe mir die Mühe gemacht und bin in den Behandlungstrakt gegangen. Dort liegen für die Wartenden immer Zeitungen herum, damit es nicht langweilig wird. Ich habe sogar zwei Monate alte Ausgaben von Lokalblättern gefunden. Hier ist alles unter Kontrolle und wird mit einer einzigen eisernen Hand regiert. Ich bin in der STADT herumgegangen und habe mir die Preise an den Kiosken angeschaut: Sie sind niedriger als in Moskau oder fast gleich. Die Preisunterschiede sind normal, im Zentrum ist alles etwas teurer, an der Peripherie ist alles etwas preiswerter, wie das bei einem normal organisierten Handel der Fall ist. Ich habe in der Zeitung die Glosse ›Der Wachhabende der STADT berichtet‹ gelesen. Jura, in dieser Stadt gibt es keine konkurrierende Kriminalität. Verstehst du? Ich kenne mich mit solchen Analysen aus. Ich erstelle sie für alle Bezirke. Und ich kann dir mit Sicherheit sagen: in der STADT gibt es eine einzige Mafia. Nur eine. Dafür eine richtige. Keine organisierten Ganovengruppen mit Schießeisen, sondern eine mächtige Struktur, die alle Macht-und Verwaltungsorgane von vorn bis hinten gekauft hat. Es ist nicht ausgeschlossen, daß auch die Sicherheitsorgane gekauft sind. Das ist sogar wahrscheinlich, wenn es eine richtige Mafia ist. Und noch etwas kommt mir in den Sinn. Wenn die Ermordung Alferows nicht eine Moskauer Angelegenheit, sondern sozusagen hausgemacht ist, dann wird sie niemals aufgedeckt werden. Unsere kläglichen Versuche, etwas zu unternehmen, führen nur zu einem Ergebnis: Die Jungs von der Kripo kriegen Schwierigkeiten. Jeder für sich mag anständig sein, aber es reicht, wenn der Chef von der Mafia gekauft ist und ihnen die Luft abdreht. Sie haben sich hier ihr Leben eingerichtet, die Menschen sind meinem Eindruck nach mit allem einverstanden. Und jetzt kommen wir beide und fangen an, Nachforschungen anzustellen. Und wir bringen keinen Nutzen, nur Schaden.«
»Und wenn der Mord doch ein Auftragsmord war?«
»Glaubst du denn selbst daran?«
»Ehrlich gesagt, jetzt nicht mehr. Die Jungs arbeiten, was das Zeug hält. Sie sind keine Stümper, aber es gibt nicht den geringsten Hinweis. Die Erfahrung zeigt, daß die heiße Spur in solchen Fällen schon in den ersten Tagen auftaucht. Andererseits ist eine Aufklärung bei derartigen Fällen praktisch unmöglich, aber wenigstens weiß man dann, daß es ein Auftragsmord war.«
»Es gibt noch eine Möglichkeit. Der Mord an Alferow ist weder ein Auftrag noch eine Angelegenheit der örtlichen Mafia, sondern eine Kurzschlußhandlung. Vielleicht hat dein Golowin recht, und es geht nur um diese verrückten Wetten. Allerdings bin ich daran nicht beteiligt. Oder vielleicht hat sich in der STADT eine kriminelle Gruppe etabliert, die nicht mit der Hauptmafia zusammenarbeitet, und der arme Kolja ist ihnen zufällig auf die Füße getreten. Dann haben wir eine Chance, das Verbrechen aufzudecken, ohne daß es uns und der örtlichen Polizei Kopf und Kragen kostet.«
»Du bist mir eine, Nastja!« Korotkow blieb stehen und drehte Nastjas Kopf zu sich. »Erst gestern hast du mich beschworen, daß du nichts mit der Kripo dieser STADT zu tun haben willst. Und heute zerbrichst du dir den Kopf über ihr Wohlergehen, als wären sie deine besten Freunde. Was ist los mit dir? Hast du ihnen verziehen, oder hast du dich eines besseren besonnen?«
»Ich habe nichts verziehen und mich auch nicht anders besonnen. Aber das ist etwas ganz anderes, Jura. Meine persönlichen Beziehungen zu Sergej Michailowitsch und seinem Amt sind eine Frage der unterschiedlichen Charaktere und Weltanschauungen. Ich bin ihm nicht unterstellt, ich bin im Urlaub, und man kann mich nicht dazu zwingen, ihm zu helfen, wenn ich das nicht will. Außer vielleicht, wenn man mich offiziell aus dem Urlaub zurückholt und mir
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