Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
einen Befehl auf höchster Führungsebene erteilt. Aber sie durch mein Verhalten in Schwierigkeiten zu bringen, das wäre nicht die feine Art. Wir beide sind nicht die Personaldirektion, um festzustellen, wer bei der Mafia abkassiert und wer nicht. Stimmt’s?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Korotkow aufrichtig. »Ich habe die Sache noch nicht unter diesem Aspekt betrachtet.«
»Dann tu das mal. Denk darüber nach, was ich gesagt habe, sprich mit den Jungs hier. Vielleicht wäre es sinnvoll, daß du von hier abhaust, solange es noch nicht zu spät ist, zumal sich deine Version ohnehin nicht bestätigt. Sollen sie leben, wie sie möchten. Wir werden uns doch nicht in fremde Angelegenheiten mischen. Entscheide du.«
»Du bist schlau, Nastja. Hast dir weiß Gott was ausgedacht und Schlußfolgerungen gezogen, und entscheiden soll ich.«
»Du bist doch der Mann hier.« Nastja lächelte versöhnlich.
»Oh, sie hat sich erinnert! Und du bist gekränkt, daß man dich für eine Frau hält, ausgerechnet du! Bei dir stimmt was mit der Logik nicht, Liebste.«
Nastja warf einen Blick auf Korotkows kummervolle Augen, die plötzlich zu riesigen Seen vereisten.
»Ich bete zu Gott, Jura, daß der Mord nicht mit der hiesigen Mafia zusammenhängt. Denn es wird mir mulmig zumute, wenn ich daran denke, was sie mit uns machen, wenn wir, und sei es nur zufällig, auf die Lösung stoßen. Es gibt hier nur eine Mafia, und das ist sehr gefährlich. Niemand wird da sein, bei dem man sich beschweren kann, und niemand, den man um Schutz bitten kann. Gäbe es wenigstens Konkurrenten, so könnten wir uns irgendwie herauswinden. Aber so . . . Ich bin zwar Offizier der Petrowka Nr. 38, aber ich bin auch ein Mensch, der in der Lage ist, eins und eins zusammenzuzählen. Und ich habe Angst, Jura. Du hast keine Vorstellung, was ich für eine Angst vor dieser konkurrenzlosen allmächtigen Mafia habe. Ich kann meine Kräfte einschätzen. Meine Reaktionsgeschwindigkeit ist nicht sehr hoch, und im übrigen beschränken sich meine Fähigkeiten auf den Umgang mit Informationen. Mit denen hier werde ich nicht fertig. Nun gut, ich bin ein Feigling. Ja, ich habe einen Tadel verdient. Aber ich bitte dich, Jura, ich flehe dich an, denk über meine Worte nach und triff eine Entscheidung.«
»Und wenn ich mich mit Knüppelchen berate?«
»Genau. Ich bin eine Frau, du bist ein Mann, und er ist der Chef.« Nastja lachte auf, aber es klang nicht sehr heiter.
Aber zu einem Anruf bei Gordejew sollte es nicht mehr kommen. Denn am nächsten Morgen erfuhr Korotkow in der Polizeidirektion der STADT etwas, was ihn nachdenklich werden ließ.
Kapitel 9
TAG ZEHN
Dieser Mensch, den ich unbedingt vergessen wollte und der sich gerade deshalb wieder und wieder in meine Erinnerung gedrängt hat wie ein Ohrwurm oder ein greller Reklamespruch, den man ohne es zu wollen nachplappert, dieser Mensch wird mich ab heute nicht mehr beunruhigen. Das habe ich beschlossen.
Chanin.
Der Text war mit der Maschine getippt, das Blatt in der Mitte gefaltet, und dazwischen lag ein Foto von Kolja Alferow. Auf dem Umschlag die Anschrift der Polizeidirektion der STADT. Der Stempel war vom Vortag, dem 28. Oktober.
Wie versteinert betrachtete Korotkow das Schreiben und das Foto.
»Woher kommt das?«
»Das haben wir gestern abend bekommen«, antwortete Golowin. An seinem Gesicht war zu erkennen, daß er ebenso verwundert war wie Korotkow, es sich aber nicht anmerken lassen wollte.
»Wer ist Chanin?«
»Boris Wladimirowitsch Chanin wurde gestern ins Leichenschauhaus des Städtischen Krankenhauses eingeliefert. Selbstmord. Er hat 50 Schlaftabletten geschluckt. Er wurde bei sich zu Hause von seiner Cousine gefunden, die ihm zum Geburtstag gratulieren wollte und die Tür mit ihrem eigenen Schlüssel öffnete.«
»Scheiße.« Korotkow seufzte. »Ein originelles Fest ist das. War er psychisch krank?«
»Er war in Behandlung. Manisch-depressive Psychose mit Fragezeichen. Von den Verwandten wissen wir, daß Chanin homosexuell war.«
»Und Alferow?« fragte Korotkow unwillig. »Heißt das, er auch?«
»Ja«, bestätigte Andrej, der das Bild in der Hand drehte. »Wenn das stimmt, dann muß er Chanin schon lange gekannt haben.«
»Moment«, unterbrach ihn Jura, den Kopf in die Hände gestützt, »ordnen wir unsere Gedanken. Aus dem, was wir von Alferow wissen, folgt, daß er sich für Mädchen und junge Frauen seines Alters nicht interessierte. In der Firma, wo er arbeitete, gibt es jede
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