Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
Menge blendender Schönheiten, aber er versuchte nicht, auch nur einer einzigen den Hof zu machen. Man witzelte deswegen sogar über ihn. Über sein Privatleben hat er nicht gesprochen, keiner in der Firma konnte darüber etwas sagen. Man kann also auch Homosexualität in Erwägung ziehen. Aber Chanin . . . Das ist doch irgendwie sehr unerwartet und im richtigen Moment. Nicht wahr?«
Golowin zuckte mit den Achseln.
»Es werden ja nicht alle Verbrechen mit Schweiß und Blut aufgeklärt. Manchmal arbeitet der Zufall einem zu. Die Gutachter haben die ganze Nacht an diesem Umschlag und dem Brief gearbeitet. Der Polizeichef persönlich hat sie gebeten, es nicht bis zum nächsten Morgen liegenzulassen. Der Umschlag ist natürlich abgegriffen. Er ist ja auf der Post durch Dutzende Hände gegangen. Aber auf dem Brief und der Fotografie sind Chanins Fingerabdrücke.«
»Weiß der Teufel!« sagte Korotkow wütend. »Hatte dieser Chanin denn zu Hause eine Schreibmaschine?«
»Eine Schreibmaschine hatte er nicht. Er hat als Nachtwächter in einem Laden gearbeitet. Dort stehen zwei Schreibmaschinen im Zimmer des Direktors. Die Gutachter sind seit dem Morgen dort.«
Jura nahm ein leeres Blatt Papier und schrieb den Brieftext ab.
»Ich brauche einen Abzug von der Fotografie von Alferow. Und eine Liste der Kleidungsstücke, die er im Sanatorium bei sich hatte.«
»Wird gemacht. Was noch?«
»Vorläufig nichts. Ich gehe in die ›Doline‹ und zeige der Kamenskaja den Brief. Man kann nie wissen, womöglich hat sie eine Idee. Wenn Chanin tatsächlich Alferow umgebracht hat, dann habe ich hier nichts mehr zu tun. Morgen fahre ich ab, vielleicht sogar schon heute, gegen Abend.«
»Jura. . .« Golowin druckste verlegen herum. »Ist Anastasija sehr wütend auf mich?«
»Nicht auf dich, auf alle. Wenn du etwas von ihr willst, dann sag es jetzt gleich. Wenn ich weg bin, läßt sie euch nicht mehr an sich heran.«
»Denkst du?«
»Sie hat es selbst gesagt.«
»Aber wenn mit Chanin etwas nicht stimmt? Sie hat ja einige Tage vor dem Mord Alferow gesehen und mit ihm gesprochen, und sie könnte bemerkt haben, was für eine . . ., na, diese . . . sexuelle Orientierung er hat. Du hast doch gesagt, daß sie sehr scharf beobachtet.«
»Fällt es dir wieder ein!« Jura kam entschlossen hinter dem Tisch hervor. »Daran hättest du früher denken müssen, als sie dir ihre Hilfe anbot. Aber weit gefehlt! Schluß, Andrej, der Zug ist abgefahren. Nicht einmal ich konnte sie überreden, obwohl ich mich bemüht habe, das kannst du mir glauben.«
»Schade«, sagte Golowin aufrichtig bekümmert. »Da hab’ ich Mist gebaut, ich Idiot, und Stepanytsch hat noch eins draufgesetzt.«
»Stepanytsch?«
»Der Leiter der Untersuchung von der Staatsanwaltschaft, Michail Stepanowitsch. Er ist sehr sachkundig, aber etwas engstirnig. Keinerlei Phantasie. Der verbeißt sich in eine Möglichkeit und weicht keinen Schritt davon ab. Alles, was nicht dazupaßt, wird ignoriert. Mit diesem Selbstmord schließt er den Fall in fünf Minuten ab, trotz offensichtlicher Ungereimtheiten.«
»Dann freu dich, so hast du weniger Arbeit. Ich gehe jetzt.«
Golowin blickte Korotkow irgendwie mißbilligend nach, als dieser den Raum verließ, und griff zum Hörer.
* * *
Im Sanatorium ging Jura Korotkow als erstes zu seiner neuen Tante.
»Wie geht’s, Tante Rina?« fragte er scherzend und ergriff die ihm entgegengestreckte Hand.
»Danke, mein Lieber, nicht schlechter als gestern.« Regina Arkadjewna lächelte. »In meinem Alter gibt es keine Verbesserungen, also bedeutet ›nicht schlechter‹, daß alles in Ordnung ist.«
»Und wo ist Ihre Nachbarin? Ich höre ihre Schreibmaschine nicht.«
»Bei einer Behandlung. Sie arbeitet morgens nie, erst nach Mittag. Trinken Sie einen Tee mit mir?«
»Mit Vergnügen, aber vergessen Sie nicht, daß ich Ihr Neffe bin. Sie brauchen mich nicht zü siezen.«
»Ja, das ist wahr«, erinnerte sie sich plötzlich. »Entschuldige, mein Freund. Und Nastjenka? Klappt es so, wie du es dir ausgedacht hast?«
»Nicht so, wie ich es gerne hätte. Sagen Sie mir, mit wem hat sie Kontakt?«
»Mit niemandem.« Regina Arkadjewna schenkte Tee ein und nahm ein Stück Zucker. »Mit mir – und das selten. Mein Schüler Damir, der macht ihr meines Wissens ernsthaft den Hof, aber in letzter Zeit sieht es so aus, als hätten sie Probleme. Ich hatte mich schon gefreut: Damir ist so ein talentierter Mensch, und Nastjenka ist von seltener Klugheit, das
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