Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
gewöhnlicher Eifersuchtsmord, und weit und breit keine organisierte Kriminalität. Freilich Eifersucht mit moderner Einfärbung, sozusagen. Der Tote erwies sich als Homosexueller, und der Mörder als sein abgewiesener Geliebter.«
»Ist denn dieser Mitarbeiter der Moskauer Kripo noch hier?« fragte der Bürgermeister plötzlich.
»Noch ist er hier, aber er fährt dieser Tage ab. Der Mord ist geklärt, er hat hier nichts mehr zu tun.«
»Hör zu, ich hab’ eine Idee. Was ist, wenn wir im lokalen Fernsehen eine Sendung machen, die sich mit den Problemen der Kriminalität beschäftigt? Wir laden Repkin ein, dich und den Kerl aus Moskau. Und ihr sprecht darüber, wie schlecht es in Moskau steht und wie gut bei uns. Hm? Ist das ein Vorschlag?«
»Ein interessanter Vorschlag«, antwortete der Schwager vorsichtig, nahm wieder seine Brille ab und putzte sie behutsam, um seine Gedanken zu sammeln. »Aber ich fürchte, daß dabei nichts herauskommt. Der Moskauer Detektiv reist heute, spätestens morgen ab, und niemand wird uns gestatten, ihn hier festzuhalten, und er selbst wird das auch nicht wollen. Um aber eine Sendung zu machen, muß man erst ein Drehbuch schreiben und man hat eine Menge Vorarbeiten. Das kann man nicht in zwei Stunden machen. Drehbuch, Aufnahmen, Schnitt, da kommt einiges zusammen.«
»Schade«, sagte der Bürgermeister bedauernd. »Ohne den Mann aus Moskau wird nichts aus der Sendung, er müßte selbst über die Moskauer Kriminalität und über seine Eindrücke von der hiesigen kriminellen Lage sprechen. Und wenn man eine Live-Sendung macht? Ich spreche mit dem Fernsehen, mir wird man nichts abschlagen, ich bin immerhin der Bürgermeister. Den Genossen aus Moskau bitten, einen Tag länger zu bleiben und schnell die Sendung organisieren – das ist durchaus möglich. Was denkst du?«
»Ich denke«, antwortete der Schwager gedehnt und die Worte sorgfältig abwägend, »daß man das überhaupt nicht machen sollte. Das Beispiel anderer Städte zeigt, daß die Bevölkerung nicht dann über ein Problem nachzudenken beginnt, wenn es entsteht, sondern dann, wenn die Journalisten beginnen, darüber zu reden. Die Menschen sind gewohnt, dem gedruckten Wort zu glauben: Wenn die Journalisten zu sprechen beginnen, heißt das, die Sache steht schlecht und man bewegt sich am Rand einer Katastrophe. Es ist unnötig, mein Guter, einen schlafenden Hund zu wecken.«
»Aber ich will ja nicht davon sprechen, daß die Kriminalität steigt. Ich will im Gegenteil zeigen, daß die Situation bei uns viel besser ist als anderswo.«
»Ich verstehe. Aber allein die Tatsache, das Problem zu erörtern, kann negative Auswirkungen haben. Hör auf meinen Rat, gib dich nicht damit ab.«
»Gut, ich denke darüber nach«, antwortete der Bürgermeister trocken.
Noch am selben Abend rief der Schwager des Bürgermeisters bei Denissow an.
»Mein Schwager hat die Organisation einer Fernsehsendung über die Probleme der Kriminalität angeregt.«
»Ja und?« fragte Denissow verständnislos. »Was ist daran schlecht? Soll er es doch machen. Das verschafft ihm Prestige in den Augen des Volkes.«
»Er möchte eine Live-Sendung machen und den Kripomann aus Moskau einladen, damit dieser bestätigt, wie schlecht es in Moskau mit der organisierten Kriminalität steht und wie gut dagegen bei uns. Das kann man keinesfalls zulassen. Der Moskauer Detektiv ist beileibe kein Idiot. Man mußte nur sein Gesicht sehen, als er von Chanin gehört hat, um zu verstehen, daß er keine Sekunde lang an diese Version glaubt. Außerdem ist er mit der Kamenskaja befreundet – die könnte ihm auch schon eine Menge eingeflüstert haben. Können Sie sich vorstellen, was passieren kann, wenn man ihn in eine Live-Sendung läßt? Aber die Sendung vorher zu machen und sie dann zu redigieren und zu schneiden, dafür reicht die Zeit nicht: Der Mann ist im Begriff abzureisen, und der Bürgermeister weiß das. Deshalb hat er auch so eine Eile.«
»Danke für den Anruf. Ich werde alles organisieren.«
Kapitel 10
TAG ELF
Damir Ismailow räkelte sich noch im Bett, als der Masseur Kotik in seiner Suite erschien.
»Lies!« Mit diesen Worten warf er Damir die Morgenzeitung hin. »Auf der letzten Seite, rechts oben. ›Die Tragödie der Minderheiten‹.«
Damir überflog den Artikel. Ein gewisser Chanin hat sich umgebracht. Vor dem Tod hat er ein Geständnis geschrieben, daß er den seine Liebe verschmähenden Kolja Alferow getötet hat. Der Journalist ließ sich
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