Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
sagen.
* * *
Der Bürgermeister der STADT verbrachte seine Freizeit beim Kartenspiel mit seiner Frau und ihrem Bruder. Der Bürgermeister war ein stattlicher Mann mittleren Alters, der Ausbildung nach Philosoph, er hatte sogar einen Doktortitel. Bevor er die Leitung der Stadtverwaltung übernahm, hatte er einen Lehrstuhl an der Universität innegehabt, Vorlesungen gehalten, Bücher und Aufsätze geschrieben und mit der ganzen Welt in Frieden gelebt. Auch in seiner Funktion als Bürgermeister blieb er ein Bücherwurm, weit weg vom politischen Gezänk, ein gutwilliger, ehrlicher und manchmal sehr naiver Mensch. Er glaubte vom ersten Tag an und mit ganzem Herzen an die politische Reform, weshalb er sich nach dem unerwarteten Angebot, sich zur Wahl aufstellen zu lassen, dazu bereiterklärte. Denn er glaubte aufrichtig, daß man mit einer weisen und prinzipienfesten Führung vieles zum Besseren ändern könne. Sein Wahlprogramm erstellte er sorgfältig, er beriet sich mit dem Bruder seiner Frau, dem er vertraute und den er für seinen Scharfsinn und seinen politischen Weitblick schätzte. Und so gewann er die Wahlen.
»Danke, ich stehe in deiner Schuld!« sagte der frischgebackene Bürgermeister zu seinem Verwandten.
»Schön zu hören.« Der Schwager lächelte feinsinnig. »Ich hoffe, du wirst dich daran erinnern.«
Heute war der Bürgermeister guter Dinge und wies nicht einmal seine Frau für ihre unbedachten oder offensichtlich dummen Spielzüge zurecht.
»Was gibt es Neues in der Welt des Verbrechens?« fragte er scherzend, mischte die Karten und gab aus.
»Wie üblich«, antwortete der Schwager nachlässig, nahm seine Karten auf und sortierte sie nach Farben. »Man tötet, raubt, ist gewalttätig, stiehlt. Etwas Neues hat die Menschheit bisher nicht erdacht. Alles Geniale ist schon erfunden und verändert heute nur noch mäßig seine Form. Im übrigen ist unsere STADT ruhig, wie du weißt. Das ist nicht Moskau. Dort gibt es vier bis fünf Morde täglich, und bei uns einen pro Woche. Ich passe.«
»Ein schöner Vergleich!« erboste sich der Bürgermeister. »Dort ist die Bevölkerung zwanzig Mal größer. Ich passe auch. Deck die oberste Karte auf.«
»Die Bevölkerung ist zwanzig Mal größer, und die Zahl der Morde fünfunddreißig Mal höher. Rechne dir aus, wo es ruhiger ist. Du Philosoph kannst nicht einmal zwei und zwei zusammenzählen«, mischte sich seine Frau ein, die in der Schule Mathematik unterrichtete.
Der Bürgermeister zählte schweigend die Stiche und schrieb die Punkte auf. Nach einigen Minuten kehrte er zu dem Thema zurück.
»Hör mal, ist die Lage mit der Kriminalität bei uns in der STADT wirklich besser als in Moskau?«
»Natürlich«, antwortete der Schwager selbstsicher, der in der Polizeidirektion der Stadt als Stabsoffizier arbeitete. »Wenn du Zahlen brauchst, schicke ich dir morgen die statistischen Jahrbücher unseres Ministeriums, worin die Daten über die einzelnen Landesteile stehen, dann kannst du vergleichen. Und wenn es dir um eine mündliche Auskunft geht – es ist wirklich sehr ruhig bei uns. Du bist doch ein guter Bürgermeister, also herrscht Ordnung in der Stadt. Und wo Ordnung herrscht, gibt es weniger Ärger und Aufregung. Das ist eine Binsenweisheit. Natürlich, Mord ist Mord, aber wenn man ehrlich ist, sind viele Morde kein Verbrechen, sondern ein Unglück für den Mörder selbst. Eifersucht, Neid, die Unfähigkeit, eine Kränkung zu ertragen – all das ist menschlich, das kann man nicht verbergen und auch durch kein System verändern. Das hat es immer gegeben, gibt es und wird es auch immer geben. Und was die Diebstähle und Raubüberfälle angeht, so steht es bei uns in der STADT wesentlich besser als andernorts, das kannst du mir glauben.«
»Und was ist mit der organisierten Kriminalität?«
»Was für Wörter du kennst!« Der Schwager lachte aus vollem Hals und nahm die getönte Brille ab, um sich die Tränen abzuwischen. »Überleg doch mal, wo es bei uns in der STADT eine organisierte Kriminalität geben sollte? Übrigens, ein Beispiel: Im Sanatorium ›Doline‹ wurde ein Kurgast aus Moskau getötet. Wir hatten offen gestanden Angst, ob da nicht die Moskauer Mafia unsere STADT zu einem Ort interner Abrechnungen gemacht hat. Wir haben mit der Moskauer Kripo Kontakt aufgenommen, es ist sofort jemand von dort gekommen, wir haben in alle Richtungen ermittelt. Wir dachten, das sei tatsächlich organisierte Kriminalität. Und was stellt sich heraus? Ein
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