Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
erneut den Kopf, es war, als sei ihr die Zunge am Gaumen festgewachsen.
»Warum sind Sie dann so erschrocken? Sie sind ja kreidebleich, mein Täubchen. Man könnte meinen, Sie fallen jeden Augenblick in Ohnmacht.«
»Ich habe Angst vor ihm«, flüsterte Dascha. Aus ihrem reizenden Gesichtchen war tatsächlich alle Farbe gewichen, selbst ihre Lippen waren fahl geworden.
»Warum haben Sie Angst? Was ist Besonderes an diesem Mann?«
»Er verfolgt mich.«
Du lieber Gott, stöhnte Nastja innerlich auf. Fehlt nur noch, daß sie an einem Verfolgungswahn leidet! Ich zerbreche mir den Kopf über die Merkwürdigkeiten ihres Charakters, aber in Wirklichkeit ist sie vielleicht ganz einfach geistesgestört. Ein schöner Witz!
»Wie kommen Sie darauf?« fragte Nastja mit gespielter Anteilnahme.
»Er taucht überall auf, wo ich bin. Hier vor dem Geschäft, vor meinem Haus, vor der Universität, wenn ich abends nach Hause gehe.«
»Vielleicht kommt es Ihnen nur so vor. Schauen Sie sich einmal genau an, wie er angezogen ist. Eine typische Lederjacke, eine typische Hose, ein typischer Haarschnitt, ein Allerweltsgesicht. Sehen Sie, der Mann dort drüben trägt eine ähnliche Lederjacke und der andere dort sogar genau die gleiche, halb Moskau läuft so herum, in diesen Jacken und Hosen. Ich bin sicher, daß es jedes Mal verschiedene Männer sind, die Sie für ein und denselben halten.«
Dascha wandte ihren Blick von dem Schaufenster ab und sah Nastja aufmerksam an.
»Halten Sie mich für verrückt?« fragte sie mit leiser, aber deutlicher Stimme. »Dieser Mann hat rechts über der Oberlippe ein kleines Muttermal und zwei weitere auf der linken Wange, direkt neben dem Ohr. Am Kragen seiner Jacke trägt er einen kleinen blau-roten Sticker. Die Brusttasche der Jacke ist oben ein wenig eingerissen. Ich habe diesen Mann schon mehrmals gesehen und mir diese Einzelheiten genau eingeprägt.«
Nastja versuchte, kaltblütig zu bleiben.
»Aber das heißt doch noch lange nicht, daß er Sie verfolgt! Vielleicht ist er einfach oft hier und wartet auf jemanden, zum Beispiel auf seine Freundin, die irgendwo nebenan arbeitet. Vor der Universität können sie ihn zufällig getroffen haben, daran wäre nichts Außerwöhnliches. Und vor Ihrem Haus haben Sie irgendeinen anderen Mann vor lauter Angst für diesen gehalten. Glauben Sie nicht, daß es so gewesen sein könnte?«
»Nein. Ich habe Angst vor ihm.«
»Verfolgt er Sie schon lange?«
»Seit etwa zwei Wochen.«
Dascha erzitterte ein wenig und stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Ladentisch ab.
»Und warum verfolgt er Sie nach Ihrer Meinung?«
»Ich habe keine Ahnung. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ich mich vor ihm fürchte.«
»Warum wenden Sie sich nicht an die Miliz, wenn Sie sich so schrecklich fürchten?« fragte Nastja, die die Befürchtungen des Mädchens immer noch nicht ernst nahm.
»An die Miliz?« Dascha gelang es, sich ein kleines, mitleidiges Lächeln abzuringen. »Die halten mich doch für verrückt, die werden sagen, ich leide an Verfolgungswahn.«
Offenbar kann sie auch Gedanken lesen, dachte Nastja verwirrt, sie errät meine Gedanken schneller, als ich sie denke. Was ist das für eine Geschichte mit der angeblichen Beschattung? Wenn sie lügt, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder kennt sie diesen Mann und hat nicht etwa deshalb Angst vor ihm, weil er sie beschattet, sondern aus ganz anderen Gründen. Oder sie kennt ihn nicht und denkt sich die Sache mit der Beschattung aus. In diesem Fall muß ich dringend darüber nachdenken, wozu sie das nötig hat. Aber was, wenn sie doch nicht lügt? Die Geschichte wird immer verworrener. Ich muß dringend etwas unternehmen, sonst verheddere ich mich ganz und gar und komme mit diesem Mädchen nie auf einen grünen Zweig.
»Sie sollten nicht so schlecht über die Miliz denken«, sagte Nastja gelassen, während sie eine schwarze Hose und einen weiten sumpfgrünen Blazer vom Bügel nahm. »Was kostet diese Kombination?« fragte sie, »ich möchte sie kaufen.«
Sie verließ das Geschäft und ging in Richtung Metro. Nach etwa zweihundert Metern machte sie abrupt kehrt und ging langsam zurück zum »Orion«. Als sie den Mann in der braunen Lederjacke erblickte, blieb sie stehen und sah sich um. Nur ein paar Schritte entfernt standen sich ein Tabak-Kiosk und ein Blumenstand im rechten Winkel gegenüber, der eine blickte auf den Twerskoj Boulevard, der andere auf den Platz. Nastja kaufte eine Schachtel Zigaretten und
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