Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
befohlen, mutiger zu werden und eigene Entscheidungen zu treffen.«
»Der Mut besteht nicht darin, Vorgesetzten zu widersprechen und ihnen Informationen vorzuenthalten.«
»Doch, darin auch«, widersprach Nastja eigensinnig. »Aber ich will nichts vor Ihnen verheimlichen. Ich möchte Denissow um Hilfe bitten.«
»Wen?« Der General verschluckte sich vor Überraschung und begann zu husten.
»Eduard Petrowitsch Denissow«, wiederholte Nastja ungerührt. »Erstens habe ich, wie Sie schon sagten, keine eigenen Informanten, und zweitens ist Eduard Petrowitsch mir etwas schuldig, so daß ich ihn ohne Gewissensbisse um einen Gefallen bitten darf. Und Sie, Viktor Alexejewitsch, bitte ich sehr, mir das nicht zu verbieten, denn ich werde sowieso tun, was ich tun muß, und dann wäre ich gezwungen, Sie zu belügen, was ich auf keinen Fall tun möchte.«
»Wozu brauchst du Denissow?« krächzte der General resigniert, mit beiden Händen seinen Hals umfassend. »Was willst du aufklären?«
»Vorläufig kann ich Ihnen das nicht sagen. Setzen Sie mich bitte nicht unter Druck, Viktor Alexejewitsch, ich kenne die Vorschriften.«
»Gut, mach, was du willst«, erwiderte Knüppelchen überraschend friedfertig. »Du bist ein kluges Mädchen, du wirst nichts ausgesprochen Dummes tun. Aber nimm dich in acht vor Denissow. Dieses erzreaktionäre Krokodil wird dich verschlucken wie eine Fliege und es nicht einmal merken.«
4
Eduard Petrowitsch Denissow war der unumschränkte Herr einer sehr alten Stadt mit einer halben Million Einwohnern. Vor einem Jahr hatte er entdeckt, daß irgendeine kriminelle Bande auf seinem Territorium ihr gesetzloses Unwesen trieb. Eduard Petrowitsch hatte viel Kraft und Energie darauf verwandt, in der STADT eine einheitliche, in sich geschlossene Mafia-Organisation aufzubauen, er duldete keine Konkurrenz in seinem Reich, und die dreiste Einmischung der Fremden empörte ihn aus tiefster Seele. Und eines Tages ereignete sich ein Mordfall im städtischen Sanatorium, der ganz offensichtlich auf das Konto der Bande ging. Die von Denissow gekaufte Miliz konnte nicht viel zur Aufklärung des Falles beitragen. So kam Denissow auf die Idee, die Dienste einer gewissen Kamenskaja in Anspruch zu nehmen, die sich zu dieser Zeit im Sanatorium aufhielt und den Ermordeten sogar kannte.
Für Nastja war die Situation damals ziemlich schwierig. Sie mußte sich die qualvolle Frage beantworten, ob sie sich auf eine Zusammenarbeit mit der Mafia einlassen durfte, wenn es darum ging, einer gefährlichen Mörderbande das Handwerk zu legen und weitere blutige Verbrechen zu verhindern. Außerdem hatte sie schreckliche Angst vor Denissow und seinem kriminellen Verband, denn sie kannte niemanden in der STADT und war sich im klaren darüber, daß sie niemanden um Hilfe würde bitten können, wenn sie in Schwierigkeiten kommen sollte. Auch die Miliz würde ihr in diesem Fall nicht beistehen, denn natürlich war sie bis zum letzten Mann gekauft von der einheitlichen, in sich geschlossenen Mafia-Organisation.
Letztendlich war es ihr aber gelungen, ihre Angst zu überwinden und eine moralische Rechtfertigung für ihre Handlungsweise zu finden. Sie überführte die Mörder, und zwischen ihr und Denissow entstand eine beinah freundschaftliche Beziehung. Sie lehnte es ab, sich für ihre Arbeit bezahlen zu lassen. Sie nahm nur eine Zugfahrkarte nach Moskau an, und Eduard Petrowitsch sagte beim Abschied:
»Ich bin schon über sechzig, Anastasija, vielleicht schlägt schon morgen mein Stündchen. Und ich möchte nicht als Schuldner sterben. Verstehen Sie mich richtig. Versprechen Sie mir, daß Sie mich anrufen, wenn Sie etwas brauchen, was immer es sei. Sie kennen mich inzwischen ganz gut und wissen, daß es nichts gibt, was ich nicht tun könnte. Und für Sie tue ich sogar das, was unmöglich ist.«
Seither war ein Jahr vergangen, und nun war tatsächlich der Fall eingetreten, daß sie Denissow brauchte. Er war der einzige, der ihr helfen konnte.
Sie wählte seine zehnstellige Telefonnummer. Vielleicht hatte Denissow sie und sein Versprechen längst vergessen. Vielleicht war er inzwischen gestorben. Oder man hatte ihn verhaftet. Obwohl das unmöglich war. Es gab niemanden, der Eduard Petrowitsch verhaften konnte. Und es lag auch kein Grund vor. Ideologische Herrschaft war kein krimineller Tatbestand, ganz zu schweigen davon, daß es in der STADT keine Richter gab, die in der Lage gewesen wären, einen Koloß wie Denissow zu stürzen.
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