Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
ihrem Haus verschwinden würde. Auch das interessierte den Fremden nicht. Er wußte bereits, wo die Frau wohnte, und die Strecke, die Igor anschließend zu seiner Wohnung zurückfahren würde, war ihm ebenfalls bekannt. Auf dieser Strecke boten sich keine Möglichkeiten.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, blickte noch einmal auf die Benzinanzeige, wendete den Wagen entschlossen und fuhr zur Tankstelle. Für heute gab es nichts mehr zu tun.
DRITTES KAPITEL
1
Als Nastja sich zum zweiten Mal auf den Weg ins »Orion« machte, wußte sie in etwa, was sie tun und wie sie sich verhalten mußte, um sich ein präziseres Bild von Dascha Sundijewa zu verschaffen. Sie hatte sich aktenkundig gemacht und festgestellt, daß gegen das Mädchen nichts vorlag; es hatte sich nie strafbar gemacht, ein makelloser, geradezu vorbildlicher Lebenslauf. Alles, was Dascha Alexander Kamenskij über sich erzählte hatte, entsprach der Wahrheit.
Und gleichzeitig konnte Nastja nicht glauben, daß sie wirklich so war, wie sie zu sein schien. Es war unvorstellbar, daß am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts im gepeinigten, chaotischen, krisengeschüttelten Rußland ein Wesen existierte, das über eine hohe Intelligenz, über Professionalität und Scharfblick verfügte und gleichzeitig von so rührender Naivität, Warmherzigkeit und Hilfsbereitschaft war. Vielleicht, wenn Dascha nicht hier geboren und eine andere Erziehung genossen hätte, doch ihre Papiere wiesen sie eindeutig als gebürtige Moskauerin aus. Vielleicht war sie einfach eine perfekte Schauspielerin, aber dann stellte sich die unangenehme Frage, wozu dieses ganze Theater gut sein sollte.
Nastja sollte nicht dazu kommen, das von ihr geplante Experiment mit der rätselhaften Verkäuferin zu machen. Dascha begrüßte sie wie eine nahe Verwandte, erkundigte sich danach, welchen Eindruck das neue Kostüm auf die Arbeitskollegen gemacht hatte, und zeigte große Bereitschaft, die begonnene Arbeit am Image der reichen, unattraktiven Kundin fortzusetzen, um das Aschenbrödel in eine Prinzessin zu verwandeln. Nastja beschloß, probeweise eine höhere Karte auszuspielen.
»Ich habe eine ziemlich umfangreiche Garderobe, man bringt mir oft Sachen aus dem Ausland mit, doch sie sind alle ganz verschieden im Stil, und ich weiß auch gar nicht, wie man so etwas trägt«, sagte sie scheinbar beiläufig, während sie den Reißverschluß der engen Hose zuzog, die Dascha ihr angeboten hatte, und einen langen, eleganten Blazer überzog.
»Wenn Sie möchten, komme ich zu Ihnen nach Hause und schaue mir Ihre Garderobe einmal an«, erwiderte Dascha ohne zu zögern, während sie Nastja ein neues Kostüm in die Umkleidekabine reichte. »Vielleicht gelingt es uns ja, Ihnen ein Image zu schaffen, zu dem ein Großteil ihrer Sachen paßt. Es ist doch schade, wenn Ihre Kleider einfach nur im Schrank hängen.«
»Wäre es denn keine zu große Strapaze für Sie, wegen irgendeiner zufälligen Kundin bis an den Stadtrand zu fahren?« fragte Nastja verwundert, während sie die Hose abstreifte und nach dem Rock griff, den Dascha ihr reichte.
»Aber nein, keinesfalls, das mache ich gern!« erwiderte sie freudig. »Es gehört doch zu meinem Beruf.«
Diese Sendung im Geschehen gefiel Nastja nicht. Das war zuviel der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Entweder übersteigerte Dascha jetzt ihre Rolle, oder sie war überhaupt nicht von dieser Welt. Aber der nächstliegende Schluß war natürlich, daß es ihr darum ging, an Nastjas Papiere heranzukommen. Eine reiche Dame mit einem teuren Wagen und einem schönen jungen Chauffeur – das war verführerisch. Dascha wollte ausspionieren, wie diese Dame lebte, ob sie wirklich zu jener hochkarätigen Klientel gehörte, deren Papiere interessant waren für ihre Auftraggeber. Nein, das alles gefiel Nastja ganz entschieden nicht. Sie war bereits dabei, den nächsten Schritt zu tun, um der Sache noch näher zu kommen, als sie plötzlich bemerkte, daß Daschas Gesicht sich verändert hatte.
»Was ist mit Ihnen?« erkundigte sie sich beunruhigt, »fühlen Sie sich nicht wohl?«
Dascha schüttelte den Kopf, ohne ihren verschreckten Blick vom Schaufenster abzuwenden. Nastja folgte der Richtung ihrer Augen und erblickte einen jungen Mann in einer braunen Lederjacke. Er stand neben dem Imbißstand, kaute an einem Hamburger herum und hielt einen Plastikbecher mit einem heißen, dampfenden Getränk in der Hand.
»Kennen Sie diesen Mann?« fragte Nastja.
Dascha schüttelte
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