Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
ausgesprochen liebenswürdig, weil solche Menschen immer hinter die Fassade blickten und die unausgesprochenen Gedanken des anderen erahnten. Und das setzte ihrer Liebenswürdigkeit automatisch Grenzen. So etwas wie Dascha gab es eigentlich gar nicht. Nastja war davon überzeugt, daß sie sich verstellte. Und da es unmöglich war, Intelligenz, Professionalität und Scharfsinn vorzutäuschen, blieb nur die Annahme, daß die Liebenswürdigkeit und Offenheit unecht waren. Es sieht ganz so aus, Bruderherz, als hättest du dich nicht getäuscht, dachte Nastja. Irgendwas stimmt mit deiner Freundin ganz entschieden nicht.
Kaum hatte Nastja die Tür zu ihrer Wohnung aufgeschlossen, hörte sie das Läuten des Telefons.
»Geh mal ran!« rief ihr Tschistjakow aus dem Innern der Wohnung zu. »Das ist bestimmt wieder dein Halbbruder, er ruft schon zum zehnten Mal an.«
Am Apparat war tatsächlich Alexander Kamenskij, der voller Unruhe erwartete, was Nastja ihm zu berichten hatte.
»Vorläufig kann ich nichts Genaues sagen«, erklärte sie ihm. »Es sieht so aus, als hättest du recht, aber ganz sicher bin ich noch nicht.«
»Und was soll ich jetzt machen?« fragte er verwirrt.
»Reg dich nicht auf. Verhalte dich so, wie immer, triff dich weiterhin mit ihr, nur nimm sie nicht mehr mit zu deinen Freunden. In ein paar Tagen gehe ich noch einmal ins ›Orion‹. Vielleicht sehe ich dann klarer.«
»Entschuldige, Schwesterherz, daß ich dir Umstände mache.« Sascha bedankte sich und legte den Hörer auf.
4
Er steuerte den weißen Shiguli, vom Flughafen Scheremetjewo kommend, über die Leningrader Chaussee in Richtung Innenstadt. Ein Blick auf die Tankuhr sagte ihm, daß das Benzin gerade noch reichen würde, um bis nach Hause zu kommen. Der Tag war anstrengend gewesen, Igor Jerochin war kreuz und quer durch die Stadt gefahren, doch während Jerochin mehrmals das Auto gewechselt hatte, stand seinem Verfolger immer nur derselbe Wagen zur Verfügung, so daß das Benzin nun, am Ende des Tages, fast verbraucht war.
Er beschattete Igor Jerochin seit etwa drei Monaten, in dieser Zeit war er mindestens zehnmal am Flughafen gewesen. Mal flog Igor selbst weg, mal brachte er jemanden zu seiner Maschine, mal holte er Leute ab, die mit zahlreichen Koffern und Taschen ankamen. Der Mann in dem weißen Shiguli wußte genau, was er wollte, er verfolgte Igor beharrlich in jeder freien Stunde, registrierte genau die Orte, die er aufsuchte, was er machte, mit wem er sich traf, auf welchen Strecken er abends nach Hause fuhr. Der Verfolger war ein geduldiger Mensch, er konnte warten, übertriebener Tatendrang war ihm fremd.
In den letzten Tagen hatte der Mann bemerkt, daß Igor irgendeine junge Frau beschattete. Er machte das nicht allein, sondern wechselte sich mit irgendwelchen Kumpanen ab. Die Geschichte mit der jungen Frau amüsierte ihn. Er verfolgte eine Verfolgung. Die Frau interessierte ihn nicht, er versuchte nicht herauszufinden, wer sie war und warum sie beschattet wurde. Dem Mann in dem weißen Shiguli ging es um etwas ganz anderes.
Der Kleinbus, in dem Igor saß, fuhr in einen Hof hinein und hielt vor einem Hauseingang. Mit Jerochin stiegen drei weitere Männer aus dem Wagen und begannen, riesige Koffer und überdimensionale Taschen auszuladen. Der Fremde war ihnen nicht in den Hof gefolgt, er hatte diesen Vorgang schon mehrmals beobachtet und wußte, daß die Gepäckstücke Lederwaren und Pelze aus der Türkei und aus Griechenland enthielten. Die Ware wurde von sogenannten Weberschiffchen, wie die hin und her pendelnden Zulieferer der Schwarzhändler hießen, über die Grenze gebracht und würde am nächsten Tag auf dem Markt von Lushniki oder Konkowo zum Verkauf angeboten werden. Das war ohne jede Bedeutung für den Fremden.
Nachdem die Ware ausgeladen und ins Haus gebracht war, setzte sich Igor wieder ans Steuer des Kleinbusses und fuhr zu seinem Haus. Dort stieg er in seinen eigenen Audi um und lenkte ihn ins Stadtzentrum, auf den Twerskoj Boulevard, wo er den Wagen neben dem Dolgorukij-Denkmal parkte. Er stieg aus, ging auf einen jungen Mann mit kaukasischem Aussehen zu und wechselte einige Worte mit ihm, woraufhin der Kaukasier sich entfernte. Danach kehrte Jerochin zu seinem Auto zurück, stieg ein und blieb unbeweglich hinter dem Steuer sitzen. Der Mann im Shiguli wußte bereits, daß Jerochin jetzt auf das Erscheinen der jungen Frau wartete, um ihr anschließend so lange auf den Fersen zu bleiben, bis sie spät abends in
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