Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
Ljoscha verschluckte sich und begann zu husten.
»Du hast richtig gehört«, erwiderte sie ungerührt, »ein Krimineller, ein Verbrecher.«
»Und mit dem hast du dich so amüsiert?« fragte Tschistjakow voller Entsetzen.
»Was hätte ich deiner Meinung nach sonst mit ihm tun sollen? Weinen? Oder mit ihm ins Bett gehen? Ljoschenka, Lieber, vergiß deine Bücherweisheiten. Das Leben ist, wie es ist, eine gesunde Psyche und einen entwickelten Intellekt erkennt man an der Fähigkeit, sich den Gegebenheiten des Lebens anzupassen. Verstehst du? Das Leben ist keineswegs so, wie es in Büchern beschrieben oder im Kino gezeigt wird. Es gibt keine absolut guten und keine absolut bösen Menschen, weil weder das absolut Böse noch das absolut Gute existiert. Es existiert einfach nicht. Das muß man wissen.«
»Aber was hat das damit zu tun, daß du einen Kriminellen in deine Wohnung einlädst und mit ihm herumblödelst? Er ist doch ein Verbrecher. Wie kannst du so etwas tun?«
»Warum denn nicht?« Nastja zuckte mit den Schultern. »Er ist genauso ein Mensch wie alle anderen. Vorläufig hat er nichts Verbotenes getan, soviel ich weiß. Für alles, was er einst verbrochen hat, hat er seine Strafe abgesessen. Versteh doch, Ljoscha, wenn ein Mensch ein Verbrechen begeht, muß er verfolgt und bestraft werden, aber das bedeutet doch nicht, daß man keinen Umgang mit ihm haben darf, daß man nicht über seine Witze lachen, ihm keinen Kaffee anbieten, sich mit ihm nicht an einen Tisch setzen darf. Man darf diesem Menschen einen Gefallen tun und sich ebenso einen Gefallen von ihm erweisen lassen. Es gibt normale menschliche Beziehungen, die man nicht abhängig machen darf von den Beziehungen zwischen einem Verbrecher und der Justiz. Der Richter darf ihm sagen, daß er schuldig ist und Strafe verdient, aber der Begleitsoldat, der ihn ins Lager bringt, hat deswegen noch lange nicht das Recht, ihn einen Schurken oder Schweinehund zu nennen. Der Verbrecher hat konkreten Menschen geschadet, und der Staat beschützt diese Menschen in deren und in seinem eigenen Namen. Den Begleitsoldaten geht das nichts an. Er hat die Aufgabe, den Verbrecher zu bewachen, sonst nichts. Es steht ihm nicht zu, zu richten oder moralische Urteile zu fällen.«
Ljoscha schob seinen leeren Teller beiseite und sah Nastja aufmerksam an.
»Nastja, hast du nicht das Gefühl, daß das, was du hier von dir gibst, zutiefst unmoralisch ist?«
»Vielleicht. Aber ich weiß genau, daß es noch viel unmoralischer ist, die Menschen in Gute und Böse zu unterteilen, in Verbrecher und Gerechte. So ein Standpunkt führt immer zur Tragödie.«
Nachdem Bokr den Videorecorder vorbeigebracht hatte, machte Nastja es sich im Sessel bequem und begann, die Gesichter, die Bewegungen, die Gestik und Mimik von Suren Udunjan, Igor Jerochin und Viktor Kostyrja zu studieren. Flughafen Sheremetjewo. Die drei schleppen schweres Gepäck und verladen es in einen Kleinbus. Jetzt befinden sie sich mit drei weiteren Weberschiffchen in einem Restaurant, ohne Frauenbegleitung. Twerskoj Boulevard, Jerochin wird vor dem »Orion« von Udunjan abgelöst. Jerochin ißt sein Sandwich zu Ende, trinkt einen Schluck aus einem Plastikbecher, wirft ihn in einen Abfalleimer und setzt sich in sein leuchtend rotes Auto. Udunjan nimmt seinen Beobachtungsposten ein und wartet geduldig, bis Dascha Sundijewa am Ende ihrer Schicht aus dem Geschäft heraustritt.
Und jetzt Viktor Kostyrja. Es ist später Abend, er verfolgt Dascha auf ihrem Heimweg von der Universität. Dascha betritt die Hofeinfahrt ihres Hauses, Kostyrja setzt sich auf eine Bank, hebt den Kopf und sieht hinauf zu den erleuchteten Fenstern. Der Timer auf dem Videorecorder zeigt 23.06 Uhr an. In der nächsten Aufnahme, es ist bereits 23.54 Uhr, schaut Kostyrja immer noch zu den Fenstern. In Daschas Fenster erlischt das Licht, Viktor steht auf und geht zur Telefonzelle. Er spricht nur sehr kurz. Offenbar bittet er jemanden, ihn abzuholen, denn in der nächsten Aufnahme, um 0.31 Uhr, steigt Kostyrja zu Jerochin ins Auto.
Jetzt wieder Igor Jerochin. Der Mann, den Nastja auf dem Twerskoj Boulevard gesehen hatte und den Dascha so sehr fürchtete. Ein Vielfraß. Stopft bei jeder Gelegenheit heiße Sandwiches in sich hinein. Er geht von der Metrostation »Konkowo« zum Markt. Um ihn herum Menschengewimmel, ein dichter Menschenstrom. Etwas in diesem Menschenstrom gefiel Nastja nicht.
Sie beschloß, den Film weiterlaufen zu lassen, in der Hoffnung, daß
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